Die Religion Gottes ist eine Religion, und alle Offenbarer haben sie gelehrt. Sie ist aber etwas Lebendiges und Weiterwachsendes, nichts Lebloses und Unverständliches. In den Lehren von Moses sehen wir die Knospe, in denen von Christus die Blüte, in denen von Bahá'u'lláh die Frucht. Die Blüte vernichtet die Knospe nicht, noch zerstört die Frucht die Blüte. Sie zerstören nicht, sondern sie erfüllen. Die Knospenschalen müssen abfallen, damit die Blüte blühen kann, und die Blütenblätter müssen abfallen, damit die Frucht wachsen und reifen kann.
Eine Binsenweisheit der Popularwissenschaft besagt, dass unter „Religion“ die Vielzahl der heutigen Konfessionen und Sekten zu verstehen ist. Es ist nicht überraschend, dass eine solche Vorstellung sofort den Protest im anderen Lager weckt, dass mit Religion vielmehr das eine oder andere der großen unabhängigen Glaubenssysteme der Geschichte gemeint sei, die die gesamte Zivilisation geformt und inspiriert haben. Dieser Gesichtspunkt zieht sofort die unausweichliche Frage nach sich, wo denn diese historischen Glaubenssysteme in der heutigen Welt zu finden sind. Wo sind, genauer gesagt, „das“ Judentum, „der“ Buddhismus, „das“ Christentum, „der“ Islam usw., da sie ja offensichtlich nicht mit den sich unversöhnlich gegenüberstehenden Organisationen identifiziert werden können, die behaupten, verbindlich in deren Namen zu sprechen?
Das Problem endet hier noch nicht. Eine andere Antwort ist höchstwahrscheinlich, dass unter „Religion“ einfach eine Lebenseinstellung zu verstehen sei, die Ahnung einer Beziehung zu einer Wirklichkeit, die die materielle Existenz übersteigt. So verstanden gehört Religion zum Individuum, ist ein Impuls, der letztlich nicht organisiert werden kann, eine Erfahrung, die jedem zur Verfügung steht. Einer solchen Auffassung fehlt jedoch in den Augen der Mehrheit religiös eingestellter Menschen genau die Autorität, die der Religion ihren Sinn gibt, indem sie Selbstdisziplin hervorbringt und Menschen miteinander verbindet. Einige würden entgegenhalten, dass Religion einen Lebensstil von Menschen bezeichnet, die sich selbst strengen täglichen Ritualen verschrieben haben und eine Selbstverleugnung praktizieren, die sie völlig vom Rest der Gesellschaft absondert. All diesen unterschiedlichen Auffassungen gemeinsam ist die erstaunliche Tatsache, wie ein Phänomen, das anerkanntermaßen jeden menschlichen Horizont übersteigt, dennoch Schritt für Schritt in die enge Begrifflichkeit eigener Ideen eingesperrt wird, seien sie nun organisatorisch, theologisch, empirisch oder rituell.
Die Lehren Bahá’u’lláhs durchtrennen diesen Wirrwarr widersprüchlicher Meinungen, und, indem sie dies tun, legen sie viele Wahrheiten neu dar, die explizit oder implizit zum Kern jeder göttlichen Offenbarung gehören. Auch wenn diese Interpretation die Intention Bahá’u’lláhs nicht vollständig wiedergibt, kann man sagen, dass jeder Versuch, die Wirklichkeit Gottes in Katechismen oder Glaubensbekenntnisse einzusperren oder zu beschreiben, einen Akt der Selbsttäuschung darstellt.
»Jedem verständigen, erleuchteten Herzen ist offenbar, dass Gott, die unerforschliche Wesenheit, das göttliche Sein, unermesslich erhaben ist über alle menschlichen Merkmale wie leibliche Existenz, Aufstieg und Abstieg, Ausgang und Rückkehr. Fern sei es Seiner Herrlichkeit, dass des Menschen Zunge angemessen Sein Lob künden oder des Menschen Herz Sein unergründliches Mysterium erfassen könnte.«
(Bahá’u’lláh, 'Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláhs')
Das Mittel, dessen sich der Schöpfer aller Dinge bedient, um mit den sich stetig entwickelnden Geschöpfen, die Er ins Dasein gerufen hat, zu interagieren, ist das Auftreten prophetischer Gestalten, die die Eigenschaften einer unzugänglichen Gottheit manifestieren.
»Das Tor der Erkenntnis des Altehrwürdigen der Tage ist so vor dem Antlitz aller Wesen verschlossen. Darum hat der Quell unendlicher Gnade … jene leuchtenden Edelsteine der Heiligkeit aus dem Reiche des Geistes in der edlen Gestalt des menschlichen Tempels erscheinen und allen Menschen offenbar werden lassen, auf dass sie der Welt die Mysterien des unveränderlichen Seins schenken und ihr von Seinem reinen, unsterblichen Wesen künden.«
(Bahá’u’lláh, 'Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláhs')
Sich anzumaßen, zwischen den Boten Gottes zu wägen, indem man den einen höher als den anderen stellt, hieße, sich dem Wahn hinzugeben, der Ewige und Allumfassende wäre menschlichem Gutdünken unterworfen.
»So leuchtet dir ein«, sind Bahá’u’lláhs deutliche Worte, »dass alle Propheten Tempel der Sache Gottes sind, die in verschiedenem Gewand erscheinen. Wenn du mit scharfem Auge hinsiehst, wirst du erkennen, dass sie alle im selben Heiligtum wohnen, sich zum selben Himmel aufschwingen, auf demselben Throne sitzen, dieselbe Sprache sprechen und denselben Glauben verkünden.«
(Bahá’u’lláh, 'Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláhs')
Sich weiterhin vorzustellen, das Wesen dieser einzigartigen Gestalten könnte – oder müsste sogar – durch Theorien begriffen werden, die der physischen Erfahrung entlehnt sind, ist gleichermaßen vermessen. Was mit „Gotteserkenntnis“ gemeint ist, so erklärt Bahá’u’lláh, ist das Wissen über die Manifestationen, die Seinen Willen und Seine Eigenschaften offenbaren. Das ist der Ort, an dem die Seele in eine vertraute Verbindung zu einem Schöpfer gelangt, der sonst jenseits aller Sprache und Fassungskraft liegt.
»Weiter bezeuge ich«, ist Bahá’u’lláhs Aussage über die Stufe der Manifestation Gottes, » …dass durch Deine Schönheit die Schönheit des Angebeteten entschleiert ward, dass aus Deinem Antlitz das Antlitz des Ersehnten hervorleuchtet…«
(Bahá’u’lláh, 'Gebete und Meditationen von Bahá’u’lláh')
So verstanden weckt die Religion in der Seele Möglichkeiten, die andernfalls unvorstellbar wären. In dem Maß, in dem der Mensch lernt, aus dem Einfluss der Offenbarung Gottes für sein Zeitalter einen Nutzen zu ziehen, wird seine Natur nach und nach durchdrungen von den Eigenschaften der göttlichen Welt.
»Durch die Lehren dieser Sonne der Wahrheit«, erklärt Bahá’u’lláh, »wird jeder Mensch fortschreiten und sich entwickeln, bis er … alle in ihm verborgenen Kräfte offenbaren kann, mit denen sein innerstes, wahres Selbst begabt worden ist.«
(Bahá’u’lláh, 'Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláhs')
Da der Zweck der Menschheit auch darin besteht, „eine ständig fortschreitende Kultur“ voranzutragen, ist eine der erstaunlichsten Kräfte der Religion, und bestimmt nicht die geringste, ihre Fähigkeit, den Gläubigen den Horizont über das eigene Leben hinaus zu öffnen, so dass sie bereit sind, Opfer für die Generationen späterer Jahrhunderte zu bringen. Weil ja die Seele in der Tat unsterblich ist, wird sie durch das Erwachen ihrer wahren Natur befähigt, dem Entwicklungsprozess zu dienen, nicht nur in dieser Welt, sondern noch unmittelbarer in den Welten, die dahinter liegen.
»Das Licht, das diese Seelen ausstrahlen«, erklärt Bahá’u’lláh, »bewirkt den Fortschritt der Welt und den Aufstieg ihrer Völker. … Alle Dinge haben zwangsläufig eine Ursache, eine treibende Kraft, einen belebenden Grund. Diese Seelen, Sinnbilder der Loslösung, haben der Welt des Daseins den höchsten belebenden Antrieb gegeben und werden ihn auch weiterhin geben.«
(Bahá’u’lláh, 'Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláhs')
Glaube ist folglich das notwendige und unauslöschliche Bedürfnis einer Spezies, die von einem modernen und einflussreichen Denker beschrieben wurde als „Evolution, die sich ihrer selbst bewusst wird.“ Wenn die natürlichen Ausdrucksmöglichkeiten des Glaubens blockiert werden, erfindet man Objekte der Verehrung, die zwar unwürdig – oder sogar erniedrigend – aber durchaus in der Lage sind, die Sehnsucht nach Gewissheit einigermaßen zu beschwichtigen. Die Ereignisse des 20. Jahrhunderts liefern dafür traurige und zwingende Beweise. Die Notwendigkeit, an etwas zu glauben, ist so fundamental, dass sie nicht geleugnet werden kann.
Kurz, durch den anhaltenden Prozess der Offenbarung zeigt der Eine, Der die Quelle all des Wissens ist, das wir Religion nennen, die Integrität dieses Systems. Er zeigt, dass es frei ist von den Widersprüchen konfessioneller Ansprüche. Das Werk einer jeden Manifestation Gottes hat eine Unabhängigkeit und Autorität, die jenseits aller Bewertung steht; es ist zugleich eine Stufe in der grenzenlosen Entfaltung einer einzigen Wirklichkeit. Die Absicht der aufeinander folgenden Gottesoffenbarungen ist das Erwachen der Menschheit zu ihren Möglichkeiten und zu ihrer Verantwortung als Treuhänder der Schöpfung. Diese Offenbarungen wiederholen deshalb nicht einfach, was bereits vorhanden war. Der Prozess ist ein fortschreitender und wird nur dann richtig verstanden, wenn man ihn als solchen sieht.
Keinesfalls können die Bahá’í behaupten, sie hätten zu einer so frühen Stunde auch nur einen Bruchteil dessen verstanden, was an Wahrheiten in dieser Offenbarung enthalten ist, auf der ihr Glaube basiert. Mit Hinweis auf die Entwicklung der Sache Bahá’u’lláhs sagt der Hüter:
»Das einzige, was wir vernünftigerweise versuchen können, ist, uns zu bemühen, einen Schimmer der ersten Lichtstreifen der verheißenen Dämmerung zu erhaschen, die, wenn die Zeit gekommen ist, das die Menschheit umschließende Dunkel verjagen wird.«
(Shoghi Effendi, 'Die Weltordnung Bahá’u’lláhs')
Neben der Aufforderung zur Bescheidenheit kann diese Tatsache auch als ständige Mahnung dienen, dass Bahá’u’lláh nicht eine neue Religion ins Leben gerufen hat, damit diese neben der Vielzahl der konfessionsgebundenen Gruppen der Gegenwart steht. Vielmehr hat Er das gesamte Konzept von Religion neu gestaltet als Hauptkraft, welche die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins vorantreibt. So wie die Menschheit in ihrer ganzen Verschiedenartigkeit eine einheitliche Spezies ist, so ist auch die Intervention, durch die Gott die in der Menschheit schlummernden Eigenschaften des Geistes und des Herzens fördert, ein einheitlicher Prozess. Ihre Helden und Heiligen sind Helden und Heilige aller Zeiten und auf allen Schauplätzen des Kampfes; ihre Erfolge sind die Erfolge aller. Das ist die Norm, die im Leben und Werk des Meisters vorgelebt wurde und heute beispielhaft in einer Bahá’í-Gemeinde verwirklicht wird, die Erbe des gesamten geistigen Vermächtnisses der Menschheit geworden ist. Es ist ein Vermächtnis, das allen Völkern der Erde gleichermaßen offensteht.
Der immer wiederkehrende Beweis für die Existenz Gottes ist daher, dass Er sich seit undenklichen Zeiten immer wieder selbst offenbart. In einem größeren Zusammenhang, so erklärt Bahá’u’lláh, stellt das gewaltige Epos der religiösen Geschichte der Menschheit die Erfüllung des „Bundes“ dar. Der „Bund“ ist das bleibende Versprechen, mit dem der Schöpfer aller Dinge der Menschheit die nie versagende, immer vorhandene Führung zusagt. Diese Führung ist für ihre geistige und moralische Entwicklung wesentlich und enthält die Aufforderung, diese Werte zu verinnerlichen und ihnen Ausdruck zu verleihen. Natürlich ist es jedem unbenommen, durch eine historisierende Deutung der Quellen die einmalige Rolle des einen oder anderen Boten Gottes zu erörtern, wenn man das will. Aber solche Spekulationen helfen nicht, Entwicklungen zu erklären, die das Denken verändert und Veränderungen im Sozialverhalten herbeigeführt haben, die entscheidend waren für die Entwicklung der Gesellschaft. Die Manifestationen Gottes sind in so großen Abständen erschienen, dass die bekannten Fälle an den Fingern einer Hand abgezählt werden können. Jeder von Ihnen war eindeutig, was die Autorität Seiner Lehren betraf, jeder von Ihnen hat einen so unvergleichlichen Einfluss auf den Fortschritt der Zivilisation ausgeübt wie kein anderes Phänomen in der Geschichte.
»Sieh die Stunde, da die höchste Manifestation Gottes sich den Menschen enthüllt«, hebt Bahá’u’lláh hervor: Ehe diese Stunde kommt, ist das Altehrwürdige Sein, das den Menschen noch unbekannt ist und das Wort Gottes noch nicht ausgesprochen hat, selbst der Allwissende in einer Welt ohne Menschen, die Ihn erkannt hätten. Er ist wahrlich Schöpfer ohne Schöpfung.«
(Bahá’u’lláh, 'Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláhs')
(Auszug aus dem Buch des Universalen Hauses der Gerechtigkeit 'Ein gemeinsamer Glaube')
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