Verursacht Gott das Leiden der Unschuldigen?

Lässt Gott das Leiden der Unschuldigen geschehen?

Jeder stellt sich früher oder später die uralte Frage: Verursacht ein allmächtiger, allwissender Gott das Leid der Unschuldigen - oder kann er es zumindest nicht verhindern?

Mehrere wesentliche Grundsätze in den Bahá'í-Schriften drängen uns zu einer Lösung für dieses wesentliche Dilemma. Zum Beispiel ist Gott nicht auf dieses physische Leben beschränkt, wenn es darum geht, Ungerechtigkeiten, die wir in unserem individuellen Leben erlitten haben, wiedergutzumachen, noch ist Gott auf eine bestimmte Zeitspanne beschränkt, um in der Geschichte für Gerechtigkeit zu sorgen.

»Wahrlich, Gott machte das Leid zum Morgentau auf Seiner grünen Au und zum Docht für Seine Lampe, die Erde und Himmel erleuchtet.«

(Bahá’u’lláh, 'Brief an den Sohn des Wolfes')

Diese Feststellung mag offensichtlich erscheinen, aber sie ist der wichtigste Faktor bei der Auseinandersetzung mit der Theodizee - der entscheidenden Frage, warum ein guter Schöpfer die Existenz des Bösen zulässt. Das bedeutet, dass wir das, was uns oder anderen widerfährt, unmöglich anhand dessen bewerten oder beurteilen können, was sie in ihrer irdischen Erfahrung erdulden müssen. Ob das Leiden letztlich zu Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit, zu etwas Nützlichem oder Schädlichem führt, wäre vergleichbar mit dem Versuch, zu beurteilen, wie es jemandem in seinem Beruf ergehen wird, während er noch im Mutterleib heranwächst.

Da unsere Fruchtbildung für eine andere Existenzebene bestimmt ist, können wir ebenso wenig beurteilen, was diesem Prozess zuträglich ist und was nicht, wie ein Obstbaum die positiven Ergebnisse seines eigenen Schnittes beurteilen könnte. Aus unserer begrenzten Sicht erscheint der Tod eines Säuglings ebenso sinnlos und ungerecht wie das Leiden eines Unschuldigen. In den Bahá'í-Schriften wird jedoch deutlich, dass für diese Säuglinge gesorgt wird, wie für alle, die unschuldig leiden:

»Diese Kinder stehen unter dem Schutz der Gnade Gottes; und da sie keine Sünde begangen haben und sich nicht mit den Unreinheiten der natürlichen Welt beschmutzt haben, sind sie der Mittelpunkt der Offenbarung der Großmut, und das Auge des Erbarmens ruht auf ihnen.«

(‘Abdu’l-Bahá, 'Beantwortete Fragen')

Shoghi Effendi schrieb in einem Brief vom 8. Mai 1942, dass dieses Leben auf der Erde für uns nur von kurzer Dauer ist, dass das richtige Leben nach diesem Leben erst beginnt und ewig währt. Warum sollen wir uns grämen, verzweifelt und niedergedrückt sein, wenn eine Seele in das ewige Leben abgerufen wird?

»Das Leben in dieser Welt ist vergleichsweise kurz und beladen mit tausenden von Schwierigkeiten und Gefahren, wohingegen Leben im wahren Sinne ewig ist.«

Die große Gnade des Herrn

Auf den ersten Blick erscheint es uns sehr ungerecht, dass der Unschuldige für den Schuldigen leiden soll, aber ‘Abdu’l-Bahá versichert uns, dass diese Ungerechtigkeit nur eine scheinbare ist, dass aber auf weite Sicht vollkommene Gerechtigkeit herrscht. Er schreibt:

»Was nun die Säuglinge und Kinder betrifft, die unter den Händen der Unterdrücker leiden und umkommen ... so gibt es für diese Seelen eine Belohnung in einer anderen Welt ... Dieses Leiden ist die größte Gnade Gottes. Wahrlich, diese Gnade des Herrn ist weit besser, als alle Annehmlichkeiten dieser Welt und als das Wachstum und die Entwicklung, welche dieser Stätte der Sterblichkeit eigen sind.«

(J. E. Esslemont, 'Bahá'u'lláh und das neue Zeitalter')

Mit anderen Worten, während diejenigen von uns, welche die Möglichkeit haben, von ihrer physischen Existenz Gebrauch zu machen, dazu ermutigt, ja sogar verpflichtet werden, dies zu tun, werden diejenigen, denen diese Möglichkeit - aus welchen Gründen auch immer - vorenthalten wird, mit anderen Mitteln auf ihre weitere Existenz im Reich des Geistes vorbereitet.

Richtig verstanden, wird das wahre Leiden in Bezug auf das, was wir als "vorzeitigen Tod" oder "ungerechtes Leiden" anderer Seelen betrachten, von denjenigen von uns erfahren, die zurückbleiben und ihrer Gemeinschaft beraubt sind. Aus ihrer Sicht ist die Gerechtigkeit vollbracht, weil sie ungehindert vorankommen. Sie sind in keiner Weise beeinträchtigt, weil sie an der vollen Teilhabe an diesem Leben gehindert wurden. Ebenso können wir sicher sein, dass diejenigen, die aufgrund einer geistigen oder körperlichen Krankheit nicht mehr geistig voranzukommen scheinen, durch diese Erfahrung nicht beeinträchtigt werden:

»Wisse, dass die Seele des Menschen über alle Gebrechlichkeit des Leibes und des Verstandes erhaben und davon unabhängig ist. Dass ein Kranker Zeichen der Schwäche aufweist, ist den Hindernissen zuzuschreiben, die sich bei ihm zwischen Seele und Leib legen; denn die Seele selbst bleibt unberührt von jedem körperlichen Leiden.«

(Bahá’u’lláh, 'Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláhs')

Das Leben ein Kontinuum

Wer die wesentliche Erkenntnis des Bahá'í-Paradigmas, dass das Leben ein Kontinuum ist und sich nicht auf die physische Welt beschränkt, nicht begreift, der hält jene Leiden und all die Demütigungen, welche die Propheten selbst bereitwillig ertragen, für widersinnig:

»Wie hätten diese Seelen sich ihren Feinden ausliefern lassen, wenn sie geglaubt hätten, dass alle Welten Gottes auf dieses irdische Leben beschränkt seien? Würden sie freiwillig solche Not und Qual ertragen haben, wie kein Mensch sie je erlitten oder erlebt hat?«

(Bahá’u’lláh, 'Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláhs')

Aber wir stehen immer noch vor einem Dilemma, was das Eingreifen Gottes betrifft. Wenn Gott unser Leiden voraussieht, ist er dann nicht irgendwie verantwortlich? Warum greift er nicht ein, um unser Leiden zu verhindern, so dass wir die Vorteile des metaphorischen Klassenzimmers, das er so kreativ für unsere Bildung erdacht hat, ernten können?

Warum sehen wir nicht die Führung Gottes?

Die Führung Gottes existiert seit der Erschaffung der Welt, nur an uns liegt es sie zu suchen und im eigenen Leben anzuerkennen. Wenn nicht von Gott, woher sollten wir sonst wahre Führung erhalten?

»Wenn Gott Seine Propheten zu den Menschen sendet, ist Seine Absicht eine zweifache. Die erste ist, die Menschenkinder aus dem Dunkel der Unwissenheit zu befreien und sie zum Lichte wahren Verstehens zu führen, die zweite, den Frieden und die Ruhe der Menschheit zu sichern und alle Mittel bereitzustellen, durch die beides erreicht werden kann.«

(Bahá’u’lláh, 'Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláhs')

Wir haben bereits festgestellt, dass Gottes Vorauswissen über eine Sache nicht die Ursache für ihr Auftreten ist, genauso wenig wie unser Wissen über die Wirkungsweise eines physikalischen Gesetzes dazu führt, dass dieses Gesetz durchgesetzt wird. Aber wenn Gott unser Leiden voraussieht, warum verhindert er es dann nicht?

Die wichtigste Antwort auf diese grundlegende Frage der Theodizee ist, dass Gott eingreift!

Er greift immer wieder ein, konsequent, schrittweise und sogar täglich auf persönlicher Ebene, wenn wir uns dieses Eingreifens bewusst sind und die Möglichkeiten, die es uns bietet, in vollem Umfang nutzen. Im größeren Kontext der menschlichen Geschichte auf diesem Planeten beispielsweise lenkt Gott den Lauf der Geschichte genau und schickt aufeinander folgende Manifestationen gemäß dem alten Bund zwischen Gott und der Menschheit, nicht weil wir solche Gaben verdienen, sondern weil Gott liebevoll und vergebend ist und uns helfen will, uns als Einzelne und als globale Gemeinschaft zu entwickeln.

Die Bahá'í-Lehren versichern uns auch, dass dieselbe Hilfe in unserem persönlichen Leben verfügbar ist, wenn wir darum bitten:

»Gott ist wahrlich der Vergeber, der Barmherzige. …Gott wird das Gebet jedes Dieners beantworten, wenn das Gebet inständig ist. Seine Gnade ist weit, unbegrenzt. Er erhört die Gebete aller Seiner Diener.«

(‘Abdu’l-Bahá, Göttliche Lebenskunst)

Die Bahá'í-Schriften bestätigen diese Sichtweise, indem sie behaupten, dass die menschliche Geschichte eine spirituelle, dynamische ist und dass es ohne Gottes Eingreifen durch die Vermittler, die Gottes Boten sind, keine menschliche Geschichte gäbe:

»Ebenso sind die heiligen Offenbarer Gottes Mittelpunkt des Lichtes der Wahrheit, der Quelle der Geheimnisse und der Gnadengaben der Liebe. Sie erleuchten die Welt der Herzen und Gedanken und überschütten die Welt des Geistes mit unvergänglicher Gnade; sie geben geistiges Leben und erstrahlen im Licht der wahren Natur und inneren Bedeutung. Die Erleuchtung der Welt der Gedanken geht von diesen Mittelpunkten des Lichts und Quellen der Geheimnisse aus. Ohne die Gnade der Herrlichkeit dieser heiligen Wesen und ohne ihre Anleitung wäre die Welt der Seelen und Gedanken undurchdringliche Finsternis. Ohne die unwiderlegbaren Lehren dieser Quellen der Geheimnisse würde die menschliche Welt zum Tummelplatz tierischer Triebe und Eigenschaften, wäre das ganze Dasein unwirklich und gäbe es kein eigentliches Leben. Darum heißt es im Evangelium: »Im Anfang war das Wort«, mit der Bedeutung, dass es zur Ursache für alles Leben wurde.«

(‘Abdu’l-Bahá, 'Beantwortete Fragen')

Aber liegt es nicht an uns selbst das Richtige zu tun?

»Wahrlich, wenn wir bedenken, wie Gott uns liebt und für uns sorgt, dann sollten wir unser Leben so ordnen, dass wir Ihm ähnlicher werden.«

(‘Abdu’l-Bahá, 'Ansprachen in Paris')

Bei ‘Abdu’l-Bahá in der Schrift 'Briefe und Botschaften' finden wir eine Stelle, wo Er beschreibt wie aus der verborgenen Welt ein geliebtes Kind zur Mutter spricht:

»O du liebe Mutter, danke der göttlichen Vorsehung, dass ich befreit wurde aus einem engen, dunklen Käfig und mich wie die Vögel auf den Feldern aufgeschwungen habe in die göttliche Welt – eine Welt, die weit, erleuchtet, allzeit froh und jauchzend ist. Deshalb, o Mutter, wehklage nicht und sei nicht traurig. Ich bin weder verloren, noch bin ich zuschanden und ausgelöscht. Ich habe meine sterbliche Gestalt abgeschüttelt und mein Banner in dieser geistigen Welt gehisst. Dieser Trennung folgt ewige Vereinigung. Du wirst mich im Himmel des Herrn wiederfinden, versunken in einem Meer von Licht.«

Gibt uns das nicht Hoffnung und Zuversicht, Liebe und Vertrauen in die andere Welt?

 

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