Heute stammen so viele unserer politischen Auseinandersetzungen, Zwietracht und Spaltung von einem einzigen kontroversen Thema ab: Grenzen. Wir zeichnen sie willkürlich auf Karten und kämpfen, töten und sterben dann über ihnen.
In der alten Geschichte hatten Zivilisationen nicht die endgültigen Grenzen, die Staaten heute haben.
Das Römische Kaiserreich (27 v. Chr. - 476 n. Chr.) war die erste westliche Zivilisation, die bekannt dafür war, ihre Grenzen genau zu definieren. Die Grundlage vieler erfolgreicher Regierungssysteme entstand dann aus Autorität, Kompetenz oder Vorstellung, die von römischen oder griechischen Stadtstaaten übernommen wurden. Später erhielten die europäischen Staaten während der dunklen Zeit des Mittelalters ihre Autorität von der römisch-katholischen Kirche. Während dieser Zeit wurden zunächst lose, relativ undefinierte nationale Grenzen festgelegt, vor allem durch Eroberungen, Kriege oder Kolonisationen. Erst in jüngster Zeit der Menschheitsgeschichte – in den letzten Jahrhunderten – haben wir feste nationale Grenzen gezogen.
Jenseits dieser künstlichen Grenzen bildet das primäre Prinzip des Bahá'í Glaubens – die Einheit der Menschheit und die Einheit der Welt – einen zukünftigen Zustand der Gesellschaft, in dem alle Menschen als Weltbürger leben und gedeihen. Wir lesen in Bahá'u'lláhs Buch 'Botschaften aus ‘Akká' hierzu folgendes:
»Der ist wirklich ein Mensch, der sich heute dem Dienst am ganzen Menschengeschlecht hingibt. Das Erhabenste Wesen spricht: Selig und glücklich ist, wer sich erhebt, dem Wohle aller Völker und Geschlechter der Erde zu dienen. An anderer Stelle hat Er verkündet: Es rühme sich nicht, wer sein Vaterland liebt, sondern wer die ganze Welt liebt. Die Erde ist nur ein Land, und alle Menschen sind seine Bürger.«
Bedeutet dieses Grundprinzip, dass die Bahá'í-Lehren, wie einige vielleicht vermuten lassen, für eine völlig grenzenlose Welt eintreten? Bedeutet das, dass die Bahá'ís Globalisten sind, welche die Eliminierung aller Nationen zugunsten einer einzigen Weltregierung fordern?
In einer Stellungnahme der Internationalen Bahá'í-Gemeinde aus Anlass des 50-jährigen Bestehens der Vereinten Nationen (1. October 1995) - 'Wendezeit für die Nationen' - lesen wir über den Vorschlag zur Gründung einer internationalen Grenzkommission, wie die Welt die Frage mit den unklaren Grenzen in einer Weltgemeinschaft lösen könnte:
»Offene Gebietsansprüche und Grenzfragen sind noch immer eine Hauptquelle für militärische Konflikte und unterstreichen die äußerste Dringlichkeit, diese Fragen durch allgemeine Verträge zu klären. Diese können nur zustandekommen, wenn berücksichtigt wird, dass die Grenzen vieler Nationalstaaten oft auf eine sehr willkürliche Art und Weise festgelegt wurden, und indem alle unbefriedigten Ansprüche von einzelnen Völkern und ethnischen Gruppen einbezogen werden.«
»Anstatt diese Fragen einem internationalen Gerichtshof vorzulegen, ist es unseres Erachtens das beste, eine internationale Kommission einzuberufen, die alle offenen Grenzfragen behandelt. Die Kommission sollte nach sorgfältiger Abwägung Empfehlungen vorlegen. Diese Vorschläge könnten zugleich präventiv auf wachsende Spannungen zwischen einzelnen Volksgruppen hinweisen und helfen, Konfliktpotentiale durch den frühzeitigen Einsatz diplomatischer Mittel abzuschätzen und zu entschärfen.«
»Um eine echte Gemeinschaft der Völker langfristig zu etablieren, bedarf es der endgültigen Regelung aller Grenzfragen. Die Untersuchungen der Kommission sollen dies vorbereiten.«
Abdu'l-Bahá bot jedoch in seinem Buch 'Das Geheimnis göttlicher Kultur' von 1875 einen detaillierteren Einblick in eine mögliche zukünftige Weltgemeinschaft. Darin sah er eine global föderierte Union von Nationen, ähnlich wie die Einzelstaaten der Vereinigten Staaten oder die heutigen Einzelstaaten der Europäischen Union, souverän und unabhängig regiert, aber auch Teil eines einheitlichen, größeren Ganzen:
»Wahre Kultur wird ihr Banner mitten im Herzen der Welt entfalten, sobald eine gewisse Zahl ihrer vorzüglichen, hochgesinnten Herrscher – leuchtende Vorbilder der Ergebenheit und Entschiedenheit – mit festem Entschluss und klarem Blick daran geht, den Weltfrieden zu stiften. Sie müssen die Friedensfrage zum Gegenstand allgemeiner Beratung machen und mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln versuchen, einen Weltvölkerbund zu schaffen. Sie müssen einen verbindlichen Vertrag und einen Bund schließen, dessen Verfügungen vernünftig, unverletzlich und bestimmt sind. Diesen Vertrag müssen sie der ganzen Welt bekannt geben und die Bestätigung des gesamten Menschengeschlechts für ihn erlangen. Ein derart erhabenes und edles Unternehmen – der wahre Quell des Friedens und Wohlergehens für die ganze Welt -– sollte allen, die auf Erden wohnen, heilig sein. Alle Kräfte der Menschheit müssen frei gemacht werden, um die Dauer und Beständigkeit dieses größten aller Bündnisse zu sichern. In diesem allumfassenden Vertrag sollten die Grenzen jedes einzelnen Landes deutlich festgelegt, die Grundsätze, die den Beziehungen der Regierungen untereinander zugrunde liegen, klar verzeichnet und alle internationalen Vereinbarungen und Verpflichtungen bekräftigt werden. In gleicher Weise sollte der Umfang der Rüstungen für jede Regierung genauestens umgrenzt werden, denn wenn die Zunahme der Kriegsvorbereitungen und Truppenstärken in irgendeinem Land gestattet wäre, so würde dadurch das Misstrauen anderer geweckt. Die Hauptgrundlage dieses feierlichen Vertrages sollte so verankert werden, dass bei einer späteren Verletzung irgendeiner Bestimmung durch irgendeine Regierung sich alle Regierungen der Erde erheben, um jene wieder zu voller Unterwerfung unter den Vertrag zu bringen, nein, die Menschheit als Ganzes sollte sich entschließen, mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln jene Regierung zu vernichten. Wird dieses größte aller Heilmittel auf den kranken Körper der Welt angewandt, so wird er sich gewiss wieder von seinen Leiden erholen und dauernd bewahrt und heil bleiben.«
Die Bahá'í-Lehren können nicht isoliert verstanden werden. Folgende Passagen von Shoghi Effendi, dem Hüter des Bahá'í-Glaubens, erläutern weiter die Bahá'í-Vision, wie eine vereinte Welt - eine Welt, die Nationen nicht abschafft, sondern sie in einer globalen Föderation von Ländern zusammenführt - funktionieren könnte, hierzu lesen wir bei Shoghi Effendi im Buch 'Die Weltordnung Bahá'u'lláhs':
»Die Vereinigung der ganzen Menschheit ist das Kennzeichen der Stufe, der sich die menschliche Gesellschaft heute nähert. Die Einheit der Familie, des Stammes, des Stadtstaates und der Nation ist nacheinander in Angriff genommen und völlig erreicht worden. Welteinheit ist das Ziel, dem eine gequälte Menschheit zustrebt. Der Aufbau von Nationalstaaten ist zu einem Ende gekommen. Die Anarchie, die der nationalstaatlichen Souveränität anhaftet, nähert sich heute einem Höhepunkt. Eine Welt, die zur Reife heranwächst, muss diesen Fetisch aufgeben, die Einheit und Ganzheit der menschlichen Beziehungen erkennen und ein für allemal den Apparat aufrichten, der diesen Leitgrundsatz ihres Daseins am besten zu verkörpern vermag.«
Weiter lesen wir im Vorwort von Shoghi Effendis Buch 'Der Verheißene Tag ist Gekommen':
»Obgleich die Gegenwart dunkel und trüb ist, trägt sie doch die Verheißung einer leuchtenden Zukunft in sich. Die zerfallende alte Ordnung hat bereits eine neue geboren. Dem Prozess der Zersetzung läuft beinahe unsichtbar ein solcher des Wachstums parallel. Dieselben Leiden, die sich die Menschheit auferlegt hat, schaffen langsam aber sicher die notwendigen Voraussetzungen für die Vereinigung der Menschheit. Wiederholt betonte Shoghi Effendi, wie geheimnisvoll und "unwiderstehlich Gott seinen Plan verwirklicht, obgleich das, was wir heute sehen, das Bild einer in ihren Schlingen hoffnungslos verfangenen Welt ist", die zudem ihre hohe Bestimmung missachtet.«
In der Botschaft des Universalen Hauses der Gerechtigkeit vom 21. November 1990 finden wir noch mehr Klarheit:
»Die Einheit des Menschengeschlechts, wie sie Bahá'u'lláh vorausschaut, umschließt die Begründung eines Weltgemeinwesens, in welchem alle Nationen, Rassen, Glaubensbekenntnisse und Klassen eng und dauerhaft vereint, ferner die Autonomie seiner nationalstaatlichen Glieder sowie die persönliche Freiheit und Selbständigkeit der einzelnen Menschen, aus denen es gebildet ist, ausdrücklich und völlig gesichert sind. …«
»Ein Weltbundsystem, das die ganze Erde beherrscht und unanfechtbare Amtsgewalt über ihre unvorstellbar großen Hilfsquellen hat, das die Ideale des Ostens wie des Westens verkörpert und in Einklang bringt, vom Fluch und Elend des Krieges befreit und auf die Ausnützung aller verfügbaren Kraftquellen der Erdoberfläche bedacht ist, ein System, in dem die Gewalt zur Dienerin der Gerechtigkeit gemacht ist, dessen Leben von der allumfassenden Anerkennung eines Gottes und vom Gehorsam gegen eine gemeinsame Offenbarung getragen ist - dies ist das Ziel, dem die Menschheit, durch die vereinenden Lebenskräfte angetrieben, zustrebt.«
»Niemand, der über die gegenwärtigen Zustände in der Welt oder gar in der UdSSR nachdenkt, könnte erwarten, dass eine derartige Vollendung ohne große Anstrengungen, ohne die Überwindung vielfältiger Schwierigkeiten zustandekomme. Die treibende Kraft dieser Vollendung aber ist die Erweckung immer weiterer Menschenseelen für die Wahrheit von Bahá'u'lláhs Botschaft, ihre Gefolgschaft für Seine Sache und Sein Bündnis, die Erleuchtung ihres geistig-sittlichen Lebens durch das Licht Seiner Lehren sowie die Vereinigung ihrer Bemühungen durch Seine Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung. Durch ihre persönliche Verwandlung und durch ihre vereinten Bemühungen werden sie die Zustände in der Welt verwandeln und eine neue, weltweite Kultur ins Leben rufen.«
»Der Höhepunkt dieses Prozesses liegt noch jahrhunderte weit voraus, aber Freude macht nicht nur das letzte Ziel. Das wahre Wesen der Menschenseele ist geistig; die Beziehung jeder Seele zu Gott und ihre Verwandtschaft mit jeder anderen Seele bringen wahres Glück und wahre Erfüllung. Noch sind unsere Bahá'í-Gemeinden weit entfernt von der Vollkommenheit, die Bahá'u'lláh für uns wünscht; aber bereits jetzt erreichen wir die Erfüllung unseres Lebens durch unsere liebevolle Hilfe füreinander, unsere Nachsicht mit den Schwächen der anderen, unsere Entschlossenheit, die von Bahá'u'lláh eingesetzten Institutionen zu entwickeln und zu unterstützen, unseren Geist der Liebe und der Duldsamkeit für alle Menschen, aber auch durch unseren Mut und unsere Ausdauer in allen Schwierigkeiten.«
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