Es sind schwierige Zeiten: mit dem Krieg in der Ukraine, der sich in riesigen Flüchtlingsströmen äußert; der Pandemie, welche das Leben in vielen Bereichen einschränkt; dem Klimawandel, der sich in heftigen Stürmen, Überflutungen und Hitzewellen äußert. Dies alles macht uns das Leben schwer; eine Traurigkeit breitet sich aus. Selbst in den besten Zeiten ist es ein guter Rat, "positiv zu bleiben", besonders für jemanden, der ein Talent dafür hat, negative Schlagworte in den Medien oder auf der Straße aufzunehmen.
Aber was bedeutet Positivität wirklich und wie kann sie uns im Leben helfen? Bedeutet es, das "Schlechte" völlig zu ignorieren und sich nur auf das "Gute" zu konzentrieren? Oder ist Positivität lediglich eine Form des Wunschdenkens?
»Was sich allerdings nicht verändert hat, ist die Notwendigkeit, sich zu entscheiden, sei es zum Guten oder zum Schlechten. Genau an dieser Stelle tritt die spirituelle Natur der heutigen Krise am schärfsten hervor, weil die meisten Entscheidungen nicht nur pragmatischer, sondern moralischer Art sind. Hauptsächlich war deshalb der Verlust des Glaubens in die traditionelle Religion eine zwangsläufige Konsequenz, weil man nicht bereit war, in ihr die Führung zu sehen, die notwendig ist, um in der Moderne erfolgreich und mit Sicherheit leben zu können.«
(Universales Haus der Gerechtigkeit, 'Ein gemeinsamer Glaube')
Nach dem, was wir aus den Schriften der Bahá'í verstehen können, bedeutet Positivität einfach, das Negative zu übersehen und sich auf das Positive zu konzentrieren. ‘Abdu’l-Bahá forderte uns auf, immer positiv zu bleiben:
»Immer auf das Gute zu blicken und nicht auf das Schlechte. Wenn ein Mensch zehn gute und eine schlechte Eigenschaft hat, auf die zehn guten zu blicken und die eine schlechte zu übersehen. Und wenn ein Mensch zehn schlechte und eine gute Eigenschaft hat, auf die eine gute zu blicken und die zehn schlechten zu übersehen.«
(Esslemont, Bahá’u’lláh und das neue Zeitalter)
Wir alle haben mit Menschen zu tun, mit denen wir nur schwer zurechtkommen. Oft sehen wir nicht einmal ihre guten Eigenschaften, weil wir von den schlechten so abgeschreckt sind. Der obige Ratschlag sagt uns, dass wir den Menschen eine Chance geben, ihre Fehler übersehen und uns auf ihre Vorzüge konzentrieren sollen. Dieses Zitat wirft auch die Frage auf, was eine gute Eigenschaft ist und wie wir als Einzelne beurteilen können, was an einer anderen Person gut oder schlecht ist.
Wir können davon ausgehen, dass es einige Dinge gibt, bei denen sich fast alle einig sind, dass sie schlechte Eigenschaften sind. Es gibt jedoch Fälle, in denen man sich nicht einig ist, welche Eigenschaften gut oder schlecht sind. Dies gilt insbesondere in einem interkulturellen Kontext. Während der westliche Standard, anderen direkt in die Augen zu schauen und seine Meinung zu sagen, in manchen östlichen Kulturen als Zeichen von Vertrauen und Geradlinigkeit gilt, kann dies als unhöflich und aggressiv angesehen werden. Das macht es schwierig, die Qualitäten anderer Menschen zu beurteilen.
»Wenn ihr von ganzem Herzen Freundschaft mit allen Rassen auf Erden wünscht, so werden sich eure Gedanken geistig und aufbauend verbreiten, sie werden zum Wunsche anderer werden, wachsen und wachsen, bis sie alle Menschen erreichen.«
(‘Abdu’l-Bahá, 'Ansprachen in Paris')
Letztendlich bleibt uns nur unsere eigene Wahrnehmung der Welt, und das Beste, was wir machen können, ist, uns auf die Eigenschaften zu konzentrieren, die wir als positiv wahrnehmen, und die Eigenschaften zu übersehen, die wir als negativ empfinden.
‘Abdu’l-Bahá, schrieb im Buch 'Beantwortete Fragen' über die Nichtexistenz des Bösen wie folgt:
»Kurz, die intelligiblen Wirklichkeiten, wie alle Eigenschaften und bewunderungswürdigen Vollkommenheiten des Menschen, sind ausschließlich gut und bestehen. Das Böse ist einfach ihr Nichtvorhandensein. So ist Unwissenheit das Fehlen von Wissen, Irrtum ist das Fehlen der Rechtleitung, Vergesslichkeit das Fehlen des Gedächtnisses und Dummheit das Fehlen von Vernunft. Dies alles hat keine wirkliche Existenz.«
Das Gleiche gilt für Lebenssituationen im Allgemeinen. Wir können unseren Blick auf eine Situation verfeinern und uns dafür entscheiden, "das Licht in der Ferne" zu sehen. Selbst wenn wir mit den schlimmsten Umständen konfrontiert sind, bedeutet positiv zu sein, dass wir uns auf das konzentrieren, was wir an Wert haben. Wenn ein Wirbelsturm alles zerstört, was wir haben, außer unserem eigenen Leben, sollten wir uns auf die Tatsache konzentrieren, dass wir am Leben sind. Vielleicht glauben wir nicht, dass wir in der Lage wären, so zu reagieren, aber wir können davon ausgehen, dass es da draußen spirituelle Aktivist/inn/en gibt, die das können. Sie sind die wahren positiven Denker unter uns!
Weiterhin erklärte ‘Abdu’l-Bahá:
»Es ist möglich, dass etwas in Beziehung zu etwas anderem böse ist und gleichzeitig, innerhalb der Grenzen des ihm eigenen Wesens, nicht böse ist. Damit ist bewiesen, dass im Dasein kein Böses ist; alles, was Gott erschaffen hat, hat Er gut erschaffen. Dieses Böse ist ein Nichtsein; so ist Tod das Nichtvorhandensein des Lebens. Wenn der Mensch kein Leben mehr erhält, stirbt er. Dunkelheit ist das Nichtvorhandensein von Licht: Wenn kein Licht da ist, herrscht Finsternis. Licht ist etwas, was wirklich da ist, aber Dunkelheit existiert nicht. Reichtum ist etwas Vorhandenes, aber Armut ist ein Nichtsein.«
Eine andere Möglichkeit, positiv zu sein, besteht darin, darauf zu vertrauen, dass alles gut wird, dass dieser Sturm vorübergehen wird. Im Buch 'Die sieben Täler' beschreibt Bahá'u'lláh die spirituelle Reise zu Gott durch sieben verschiedene Stufen oder "Täler". Im Tal der Erkenntnis erzählt Bahá'u'lláh das Gleichnis eines Mannes, der viele Jahre lang von seiner Geliebten getrennt und schließlich völlig verzweifelt war. Er verließ sein Haus und wurde dann von einem Wächter verfolgt, der ihm wie ein "Todesengel" vorkam. Er rannte weiter, musste mühsam eine Mauer erklimmen, um dem Wächter zu entkommen, und fand zu seiner Überraschung seine lang vermisste Geliebte. Bahá'u'lláh erklärt dann die Moral der Geschichte:
»Hätte der Liebende im voraus den Ausgang gesehen, so hätte er von Anfang an die Wache gesegnet und für sie gebetet, in ihrer Grausamkeit die Gerechtigkeit erkennend; doch da er das Ende nicht absah, begann er von Anfang an zu klagen und zu weinen.«
(Bahá'u'lláh, 'Die Sieben Täler')
Was auch immer im Leben geschieht, wir können also darauf vertrauen, dass alles gut wird. Aber bedeutet das, dass wir das Schlechte völlig ignorieren und uns selbstgefällig zurücklehnen dürfen?
Vielleicht bedeutet die Konzentration auf das Positive nicht, dass wir das Schlechte völlig ignorieren oder so tun, als gäbe es es nicht. Wenn es insbesondere einen Menschen gibt, der sehr freundlich zu seinen Nachbarn ist, aber grausam zu Tieren, konzentrieren wir uns dann ausschließlich auf seine guten Eigenschaften und bitten ihn, sich um einen Welpen zu kümmern, während wir im Urlaub sind? Nein. Wir würden uns auf die freundliche Art dieses Mannes (zu anderen Menschen) konzentrieren, aber trotzdem vorsichtig sein, wenn er mit Tieren zu tun hat. Positiv zu sein bedeutet auch nicht, Probleme zu ignorieren und einfach zu glauben, dass sie sich von selbst lösen werden. Das ist nur eine Nachlässigkeit des Willens und kann in der Praxis schlichtweg Fatalismus sein.
»Oft sind es Jugendliche, die hier an vorderster Front mit beteiligt sind – nicht nur Bahá’í-Jugendliche, sondern auch Gleichgesinnte, die die positiven Auswirkungen dessen erkennen können, was die Bahá’í ins Leben gerufen haben, und die die zugrunde liegende Vision von Einheit und geistiger Wandlung begreifen.«
(Botschaft des Universalen Hauses der Gerechtigkeit, 1. Juli 2013)
Wenn Positivität nützlich sein soll, muss sie realistisch sein. Positiv zu sein bedeutet nicht, falsche Hoffnungen oder Wunschdenken zu haben. Es bedeutet, sich der Möglichkeiten, der Potenziale und der Kraft zur Veränderung bewusst zu sein. Anstatt sich nur auf die Probleme zu konzentrieren, sollten wir uns darauf konzentrieren, was wir machen können, um die Situation zu verbessern. Ein großer Teil der Positivität besteht also darin, proaktiv zu sein und sich auf das zu konzentrieren, worüber man die Kontrolle hat.
Nosrat Peseschkian: Situative Ermutigung bedeutet das Gute loben/bestätigen und dadurch zu stärken.
Ein großer Aspekt des Lebens, über den wir keine Kontrolle haben, ist die Vergangenheit. Wir können uns zwar an sie erinnern und davon überzeugt sein, dass sie passiert ist, aber wir können sie nicht ändern, wir können höchstens daraus lernen. Es bringt uns also nicht weiter, wenn wir uns mit den "Fehlern" der Vergangenheit beschäftigen. Bleiben noch die Gegenwart und die Zukunft als zeitliche Dimensionen, über die wir eine gewisse Kontrolle haben. Wir haben die Möglichkeit, die Zukunft zu planen und uns auf sie vorzubereiten. Allerdings können wir nur in der Gegenwart direkte Kontrolle über unser Leben haben. Und selbst in der Gegenwart gibt es nur wenige Dinge, die wir kontrollieren können. Aber um praktisch zu sein, sollten wir uns auf die Dinge konzentrieren, die wir tun können, und nicht auf die, die wir nicht tun können.
»Positiv an diesem Wandel sind die noch ungewohnte Offenheit für weltumspannende Konzepte, die Tendenz zu internationaler und regionaler Zusammenarbeit, die Neigung kämpfender Parteien, sich für friedliche Lösungen zu entscheiden, die Suche nach geistigen Werten. Selbst die Gemeinschaft des Größten Namens erlebt derart unerbittliche Wirkungen, weil dieser belebende Sturm unser aller Denkweise durchlüftet, aber auch unsere Gesamtschau für den Zweck der auf die Leiden und den Aufruhr der Menschheit folgenden Ordnung Bahá’u’lláhs erneuert, klärt und erweitert.«
(Universales Haus der Gerechtigkeit, Ridván 1992)
Wir können versuchen, als Person positiver zu werden. Davon abgesehen, haben wir sicherlich noch einen langen Weg vor uns.
»Aber erliegen wir nicht der Versuchung, bei den positiven Aspekten unseres Fortschritts zu verharren! Wir sollten uns von unseren Errungenschaften eher anspornen lassen, als uns darauf auszuruhen. Lassen Sie uns deshalb weiterhin unbeirrt und vertrauensvoll die großartigen Möglichkeiten ergreifen, welche das Gemisch jener weiter sich entwickelnden Prozesse und Ereignisse für die Umsetzung der Nahziele unserer heiligen Sache bereithält.«
(Universales Haus der Gerechtigkeit, Ridván 1989)
»Die Bahá’í jedoch kennen das Ziel, für das sie arbeiten, und wissen, was sie tun müssen, um es schrittweise zu erreichen. Ihre ganze Energie ist auf die Errichtung des Guten gerichtet, eines Guten, das eine solche positive Kraft besitzt, dass die Vielzahl von Übeln – die ihrem Wesen nach negativ sind – davor verblassen und völlig verschwinden werden.«
(Universales Haus der Gerechtigkeit, 7. Juli 1976)
»Sich an dem, einem Kampf gegen Windmühlen gleichenden Wettstreit zu beteiligen, die Übel der Welt eines nach dem anderen zu vernichten, ist für einen Bahá'í eine Vergeudung von Zeit und Mühe. Sein ganzes Leben ist vielmehr darauf ausgerichtet, die Botschaft Bahá'u'lláhs zu verkünden, das geistige Leben seiner Mitmenschen wiederzubeleben und sie in einer göttlich geschaffenen Weltordnung zu vereinen.«
(Botschaften des Universalen Hauses der Gerechtigkeit, 19. November 1974)
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