Die Bahá'í-Lehren besagen, dass der individuelle Lebenszweck darin besteht, Gott zu kennen und zu lieben, und dass der Lebenszweck für die menschliche Gesellschaft als Ganzes darin besteht, eine ständig fortschreitende Zivilisation zu fördern.
Aber wie können wir, bloße Individuen ohne jedes Mitspracherecht oder Einfluss auf die Art und Weise, wie die Welt funktioniert, dazu beitragen, die Zivilisation voranzubringen? Wie kann eine Person ohne Position oder Macht auch nur versuchen, die Welt in irgendeinem wirklichen Sinne zu verändern?
»Gelobt sei Gott! An diesem Tag leuchtet das Licht des Wortes Gottes über alle Lande. Aus allen Sekten, Gemeinschaften, Nationen, Stämmen, Völkern, Religionen und Bekenntnissen haben sich Menschen im Schatten des Wortes der Einheit versammelt und sich in engster Freundschaft und Verbundenheit vereint.«
(‘Abdu’l-Bahá, 'Sendbriefe an die Zentralorganisation für einen dauernden Frieden')
Die Menschheit, so erklären die Bahá'í-Schriften, hat das Stadium der Kindheit durchlaufen und steht nun an der Schwelle ihrer kollektiven Reife. Die revolutionären und weitreichenden Veränderungen, die heute stattfinden, sind charakteristisch für diese Zeit des Übergangs - eine Zeit, die mit der Adoleszenz verglichen werden kann. In dieser Zeit werden Gedanken, Einstellungen und Gewohnheiten aus den früheren Entwicklungsstadien der Menschheit hinweggefegt, und neue Denk- und Handlungsmuster, die ihre nahende Reife widerspiegeln, schlagen allmählich Wurzeln. 'Abdu'l-Bahá erklärte Anfang des 20. Jahrhunderts über die Bahá'í-Gemeinde:
»Oh! Wie viele Treffen werden abgehalten, geschmückt mit Seelen aus verschiedenen Rassen und Glaubensgemeinschaften! Wer dabei ist, staunt darüber und meint, dass diese Seelen einem einzigen Land angehören, einer Nationalität, einer Gemeinschaft, einem Gedanken, einem Glauben und einer Meinung. In Wirklichkeit ist der eine Amerikaner, der andere Afrikaner; einer kommt aus Asien, ein anderer aus Europa, einer ist aus Indien, ein anderer aus Turkestan; einer ist Araber, ein anderer Tadschike, einer ist Perser und wieder ein anderer Grieche. Ungeachtet dieser Verschiedenheit, sind sie in vollkommener Eintracht und Einigkeit, Liebe und Freiheit beisammen. Sie haben nur eine Stimme, einen Gedanken, eine Absicht. Wahrlich, das bewirkt die durchdringende Macht des Gotteswortes! Alle vereinten Kräfte des Weltalls wären außerstande, auch nur eine einzige Versammlung zusammenzubringen, die von den Gefühlen der Liebe, der Zuneigung, der Anziehung und Begeisterung derart durchdrungen ist, dass sie die Angehörigen der verschiedenen Rassen einigen und aus dem Herzen der Welt eine Stimme erheben könnte, die Krieg und Hader vertreibt, Zank und Streit ausrottet, das Zeitalter des Weltfriedens einführt sowie Einheit und Eintracht unter den Menschen errichtet.«
(‘Abdu’l-Bahá, 'Briefe und Botschaften)
Das Kennzeichen dieses herannahenden Zeitalters der Reife ist die Einigung der menschlichen Rasse. Shoghi Effendi schrieb im Buch 'Die Weltordnung Bahá’u’lláhs': »Die Einheit der Familie, des Stammes, des Stadtstaates und der Nation ist nacheinander in Angriff genommen und völlig erreicht worden. Welteinheit ist das Ziel, dem eine gequälte Menschheit zustrebt.« An einer anderen Stelle verwies er auf eine Zeit, welche »den Beginn einer Weltkultur bezeichnen muss, wie sie noch kein sterbliches Auge je gesehen, kein menschlicher Geist je erfasst hat.« Er fragte:
»Wer ist da, der sich die erhabene Stufe vorstellen könnte, die eine solche Kultur in dem Maße, wie sie sich entfaltet, zu erreichen bestimmt ist? Wer kann die Höhen ermessen, zu denen sich der menschliche Verstand aufschwingen wird, wenn er erst von seinen Fesseln befreit ist? Wer kann die Reiche schauen, die der Menschengeist entdecken wird, nachdem er von dem strömenden Licht Bahá’u’lláhs in der Fülle seiner Herrlichkeit belebt sein wird?«
Warum sollten die spirituellen und praktischen Aspekte des Lebens gemeinsam voranschreiten?
Das Entstehen einer globalen Zivilisation, die sowohl in ihrer materiellen als auch in ihrer spirituellen Dimension gedeiht, setzt voraus, dass die spirituellen und praktischen Aspekte des Lebens gemeinsam voranschreiten. Durch Glaube und Vernunft wird es möglich, die Kräfte und Fähigkeiten zu entdecken, die im Einzelnen und in der Menschheit als Ganzes schlummern, und für die Verwirklichung dieser Potenziale zu arbeiten. Die Anerkennung der grundlegenden Harmonie von Wissenschaft und Religion ermöglicht auch die Erzeugung, Anwendung und Verbreitung von geistigem und materiellem Wissen unter allen Bewohnern der Welt.
»Der Mensch wurde erschaffen, eine ständig fortschreitende Kultur voranzutragen. Der Allmächtige bezeugt Mir: Wie die Tiere auf dem Felde zu leben, ist des Menschen unwürdig. Die Tugenden, die seiner Würde anstehen, sind Geduld, Erbarmen, Mitleid und Güte für alle Völker und Geschlechter der Erde. Sprich: O Freunde! Trinkt euch satt aus diesem kristallklaren Strom, der durch die himmlische Gnade dessen dahinfließt, der der Herr aller Namen ist. Lasst in Meinem Namen andere an seinen Wassern teilhaben, damit die Führer der Menschen in allen Landen klar erkennen, aus welchem Grund die Ewige Wahrheit offenbart ist und warum sie selbst erschaffen wurden.«
(Bahá’u’lláh, 'Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláhs)
»Und die problembeladenen Belange der Menschheit während dieser Zeitspanne schienen zu unterstreichen, wie verzweifelt sie des vom Göttlichen Arzt verschriebenen Heilmittels bedurfte. Hierin impliziert war eine Auffassung von Religion, die sich von den Vorstellungen, die in der Welt insgesamt vorherrschen, stark unterscheidet: eine Auffassung, die die Religion als die machtvolle Kraft anerkennt, die eine immer weiter fortschreitende Kultur vorantreibt. Allen war klar, dass eine solche Kultur auch nicht spontan von selbst erscheinen würde – es war die Mission der Anhänger Bahá’u’lláhs, für ihr Entstehen hart zu arbeiten. Eine solche Mission erforderte es, den gleichen Prozess systematischen Lernens auf die Arbeit des sozialen Handelns und des Engagements im öffentlichen Diskurs anzuwenden.«
(Botschaft des Universalen Hauses der Gerechtigkeit, Ridván 2021)
Das erklärt, warum das Zeitalter, in dem wir leben, einen tiefgreifenden Wandel in seinen Einstellungen, seinen Werten und seiner Handlungsweise erlebt. Bahá’u’lláh schrieb, dass dieser fortwährende Prozess, die alte Weltordnung aufzurollen und eine neue zu schaffen, von der »Schwingungskraft« einer frischen geistigen Offenbarung ausgeht:
»Was den Bedürfnissen des Menschen in seiner früheren Geschichte angemessen war, ist weder passend noch genügend für die Erfordernisse des heutigen Tages, dieser Zeit des Neuen, der Vollendung.« Er fährt fort: »Der Mensch muss mit neuen Tugenden und Kräften, neuen sittlichen Maßstäben und Fähigkeiten erfüllt werden… Die Gaben und Segnungen der Jugendzeit, wenngleich passend und genügend während des Heranwachsens der Menschheit, sind jetzt nicht imstande, den Erfordernissen ihrer Reifezeit zu entsprechen.«
»Die Wohlfahrt der Menschheit, ihr Friede und ihre Sicherheit sind unerreichbar, wenn und ehe nicht ihre Einheit fest begründet ist.«
(Bahá’u’lláh, 'Kitáb-i-Aqdas')
Zum Abschluss haben wir einige Auszüge aus Botschaften des Universalen Hauses der Gerechtigkeit zu diesem in der heutigen Gesellschaft so bewegenden Thema.
»Solche schicksalsschweren Zeugnisse spiegeln die allgemeinen Folgen des Unverständnisses für Gottes Absicht mit der Menschheit. Genau in dieser Hinsicht aber verbreitet Bahá’u’lláh mit Seiner Offenbarung neues Licht, erfrischt unser Denken, klärt und erweitert unsere Vorstellung. Seine Lehren erfüllen uns mit Gottes reicher Liebe für Seine Geschöpfe, prägen uns die Gerechtigkeit in den menschlichen Beziehungen als etwas Unausweichliches ein und betonen, wie wichtig es ist, in allen Dingen diesem Prinzip zu folgen. Sie lassen uns wissen, dass "alle Menschen erschaffen wurden, eine ständig fortschreitende Kultur voranzutragen", und dass "die Tugenden, die der Würde" des Menschen "anstehen, Geduld, Erbarmen, Mitleid und Güte für alle Völker und Geschlechter der Erde" sind.«
(Botschaft des Universalen Hauses der Gerechtigkeit, 26. November 1992)
»Da jede konstruktive Sicht immanente Schranken der Freiheit anerkennt, sind weitere Fragen unumgänglich: Welchen Spielraum hat die Freiheit in der Bahá’í-Gemeinde? Wie sollte er bestimmt werden? Da die Menschen erschaffen sind, »eine ständig fortschreitende Kultur voranzutragen«, kann man schließen, der Gebrauch der Freiheit werde es dem Menschen ermöglichen, diesen Zweck in seinem eigenen Leben und im Gesellschaftsgefüge insgesamt zu erfüllen. Was für die Erfüllung dieses Zweckes erforderlich ist, das bemisst den Spielraum und die Grenzen der Freiheit.«
(Botschaft des Universalen Hauses der Gerechtigkeit, 29. Dezember 1988)
Unsere Zeit ist turbulent, denn während sich in der Vergangenheit der Wandel langsam vollzog, ist die aktuelle Beschleunigung des Wandels in unserer Welt nun direkt zu unseren Lebzeiten sichtbar geworden. Auch die Art und Weise, wie wir die Zivilisation einschätzen, ändert sich. Wir beginnen nun zu erkennen, dass Zivilisation aus Liebe, spirituellen Werten und ethischen Normen sowie materieller Kultur und technologischer Leistung besteht:
»Es ist unsere tiefe Überzeugung, ... dass die der Menschenwürde entsprechenden Tugenden Vertrauenswürdigkeit, Nachsicht, Barmherzigkeit, Mitleid und Güte gegenüber allen Menschen sind. Wir bekräftigen erneut unseren Glauben, dass "die Möglichkeiten, die der Stufe des Menschen innewohnen, das volle Maß seiner Bestimmung auf Erden, der angeborene Vorzug seiner Wirklichkeit, an diesem verheißenen Tag Gottes offenbar werden müssen". Dies sind die Beweggründe für unseren unerschütterlichen Glauben, dass Einheit und Frieden das erreichbare Ziel sind, dem die Menschheit zustrebt.«
(Botschaft des Universalen Hauses der Gerechtigkeit, Oktober 1985)
»So verstanden weckt die Religion in der Seele Möglichkeiten, die andernfalls unvorstellbar wären. In dem Maß, in dem der Mensch lernt, aus dem Einfluss der Offenbarung Gottes für sein Zeitalter einen Nutzen zu ziehen, wird seine Natur nach und nach durchdrungen von den Eigenschaften der göttlichen Welt. „Durch die Lehren dieser Sonne der Wahrheit“, erklärt Bahá’u’lláh, „wird jeder Mensch fortschreiten und sich entwickeln, bis er … alle in ihm verborgenen Kräfte offenbaren kann, mit denen sein innerstes, wahres Selbst begabt worden ist.“ Da der Zweck der Menschheit auch darin besteht, „eine ständig fortschreitende Kultur“ voranzutragen, ist eine der erstaunlichsten Kräfte der Religion, und bestimmt nicht die geringste, ihre Fähigkeit, den Gläubigen den Horizont über das eigene Leben hinaus zu öffnen, so dass sie bereit sind, Opfer für die Generationen späterer Jahrhunderte zu bringen. Weil ja die Seele in der Tat unsterblich ist, wird sie durch das Erwachen ihrer wahren Natur befähigt, dem Entwicklungsprozess zu dienen, nicht nur in dieser Welt, sondern noch unmittelbarer in den Welten, die dahinter liegen. „Das Licht, das diese Seelen ausstrahlen“, erklärt Bahá’u’lláh, „bewirkt den Fortschritt der Welt und den Aufstieg ihrer Völker. … Alle Dinge haben zwangsläufig eine Ursache, eine treibende Kraft, einen belebenden Grund. Diese Seelen, Sinnbilder der Loslösung, haben der Welt des Daseins den höchsten belebenden Antrieb gegeben und werden ihn auch weiterhin geben.“«
(Universales Haus der Gerechtigkeit, 'Ein gemeinsamer Glaube‘)
Geben Sie Ihre E-Mail-Adresse an, um Benachrichtigungen über neue Beiträge via E-Mail zu erhalten.
Kommentare
Keine Kommentare