Greenwich Village ist seit jeher ein attraktiver Ort für Schriftsteller, Wissenschaftler, Künstler und Politiker, so auch zur Zeit von ‘Abdu’l-Bahás Besuch in New York City im Jahr 1912, als er in Kirchen, Tempeln, Universitäten und auf einer Friedenskonferenz sprach. Dieser Artikel ist ein Versuch, dieses durch die Fußstapfen des Meisters gesegnete Viertel zu beleuchten und sich insbesondere auf die Beziehungen zwischen ‘Abdu’l-Bahá und zwei dort lebenden Künstlern, Juliet Thompson und Khalil Gibran, zu konzentrieren.
Als Juliet Thompson, eine der Jüngerinnen (Schülerinnen) ‘Abdu’l-Bahás, nach New York City zog, ließ sie sich in Greenwich Village nieder, in der W. 10th St. nahe der Fifth Avenue. Dieses Viertel war ein Zufluchtsort für Künstler und Schriftsteller, und sie passte genau hinein. Der Washington Square Park, ein paar Blocks südlich, war das Herz des Dorfes und spiegelte den Wandel des Viertels wider. An der Nordseite des Parks befanden sich die großen Häuser wohlhabender Geschäftsfamilien. Diese wurden im Sommer verschlossen, wenn die Familien aufs Land zogen. Wenn sie zurückkehrten und die gesellschaftliche Saison begann, sah man gut gekleidete, wohlhabende New Yorker, die aus den Türen teurer Automobile stiegen, die von livrierten Männern geöffnet wurden, und dann auf rote Samtteppiche traten, die von aufgespannten Segeltuchdächern geschützt wurden.
Im Buch 'Die Verkündigung des Weltfriedens' (Vortrag in der Kirche der Himmelfahrt Fifth Avenue und der 10th Street in New York) erklärte ‘Abdu’l-Bahá zum Geist der Zeit Folgendes:
»Heute braucht die Menschenwelt die internationale Einheit und Versöhnung. Die Welt braucht am dringendsten den internationalen Frieden. Eine treibende Kraft ist nötig, um diese bedeutenden Grundprinzipien zu verankern. Es versteht sich von selbst, dass die Einheit der menschlichen Welt und der Größte Frieden nicht mit materiellen Mitteln erreicht werden können. Sie können nicht durch politische Macht errichtet werden, denn die politischen Interessen der Nationen sind verschieden und die politischen Leitlinien der Völker weichen voneinander ab und stehen in Konflikt miteinander. Sie können nicht durch rassische oder patriotische Macht begründet werden, denn dies sind menschliche Kräfte, egoistisch und schwach. Rassenkonflikte und patriotische Vorurteile an sich verhindern die Verwirklichung dieser Einheit und Übereinstimmung. Daher ist erwiesen, dass die Förderung der Einheit des Menschenreichs – das Wesen der Lehren aller Manifestationen Gottes – ausschließlich durch göttliche Kraft und den Odem des Heiligen Geistes erreichbar ist. Andere Kräfte sind zu schwach und dazu nicht in der Lage.«
Künstler und Schriftsteller lebten in den verfallenen Gebäuden, Cottages und Fachwerkhäusern südlich des Platzes. In dieser Gegend lebten der Pamphletist Thomas Paine und die Schriftsteller Edgar Allan Poe, Mark Twain, Robert Louis Stevenson, Emma Lazarus, Khalil Gibran und O. Henry, um nur einige zu nennen. Die günstigen Mieten und die betriebsame Atmosphäre mit kleinen Restaurants, Geschäften und winzigen obskuren Theatern waren Anziehungspunkte für Künstler und Schriftsteller.
Dies war eine Zeit, in der immer mehr Menschen außerhalb der etablierten Kirchen nach Alternativen oder umfassenderen Glaubenssystemen suchten. Zu diesen Alternativen gehörten der Spiritismus, der Glaube, dass Gott transzendent ist und nicht mit anthropomorphen Begriffen beschrieben werden kann und dass Geister uns aus dem Jenseits kontaktieren können; theosophische Gesellschaften, die lehrten, dass Gott überall ist, dass die menschliche Natur letztlich göttlich ist und dass Krankheit durch "richtiges Denken" geheilt werden kann, sowie Hinduismus und Buddhismus, die nur bruchstückhaft gelehrt oder verstanden wurden.
Diese Bewegungen neigten dazu, eine universellere Sicht von Gott und Erlösung zu haben als die traditionellen Kirchen, und die Menschen waren eher bereit, lange akzeptierte kirchliche Lehren zu verwerfen oder darüber hinauszugehen. Viele dieser Suchenden blieben christlich im Sinne ihrer sozialen und spirituellen Lehren und eines gewissen Engagements in einer Kirche.
Für einige schien der Bahá'í-Glaube eine dieser "Alternativen" zu sein, mit einer eher charismatischen als formellen Gemeinschaftsstruktur und, soweit die Menschen wussten, mit allgemeinen spirituellen Lehren wie der Einheit der menschlichen Rasse und der Förderung des Weltfriedens, die dem entsprachen, was viele Menschen als die Bedürfnisse der Zeit ansahen, und die ihre bereits bestehenden Meinungen zu anderen Themen nicht in Frage stellten. In diesem Sinne spiegelte der Zeitgeist vor dem Ersten Weltkrieg einige Aspekte von Baha'u'llahs Lehren wider.
Im Verlauf dieser epochalen Reisen vor einem großen und repräsentativen Publikum, das manchmal mehr als tausend Menschen umfasste, erläuterte ‘Abdu’l-Bahá zum ersten Mal in Seiner Amtszeit mit brillanter Einfachheit, Überzeugungskraft und Nachdruck die wesentlichen charakteristischen Grundsätze des von Seinem Vater gestifteten Glaubens, die zusammen mit den im Kitáb-i-Aqdas offenbarten Gesetzen und Bestimmungen das Fundament der jüngsten Offenbarung Gottes für die Menschheit bilden.
Die selbstständige Suche nach Wahrheit, frei von Aberglauben und Traditionen; die Einheit der ganzen Menschheit – zentrales Prinzip und wesentliche Lehre des Glaubens; die grundlegende Einheit aller Religionen; Verurteilung aller Vorurteile in Bezug auf Religion, Rasse, Gesellschaftsschicht oder Nation; der Einklang von Religion und Wissenschaft; die Gleichstellung von Mann und Frau, den beiden Flügeln, mit denen sich der Vogel der Menschheit aufschwingen kann; die Einführung der Schulpflicht; die Annahme einer Welthilfssprache; die Beseitigung der Extreme von Reichtum und Armut; die Einrichtung eines Weltgerichtshofs zur Schlichtung von Konflikten zwischen Staaten; die Erhebung von Arbeit, die im Geist des Dienstes geleistet wird, in den Rang des Gottesdienstes; die Verherrlichung der Gerechtigkeit als herrschendes Prinzip in der menschlichen Gesellschaft und der Religion als Bollwerk für den Schutz aller Völker und Nationen; die Schaffung eines dauernden und universellen Friedens als vorrangiges Ziel der ganzen Menschheit – das sind die unverzichtbaren Bestandteile dieser göttlichen Ordnung, die Er im Verlauf Seiner Missionsreisen sowohl den Vordenkern als auch der breiten Masse des Volkes verkündete.
Die Darlegung dieser lebenspendenden Wahrheiten des Glaubens Bahá’u’lláhs, den Er als den »Geist des Zeitalters« charakterisierte, ergänzte Er wiederholt durch eindringliche Warnungen vor einem drohenden Flächenbrand, der, wenn die Staatsmänner ihn nicht abwendeten, den ganzen europäischen Kontinent in Flammen setzen werde. Im Verlauf dieser Reisen prophezeite Er die radikalen Veränderungen, die auf diesem Kontinent stattfinden würden, deutete die unvermeidlich einsetzende Bewegung zur Dezentralisierung der politischen Macht an, wies auf die Wirren hin, die in der Türkei ausbrechen würden, sah die auf dem europäischen Kontinent einsetzende Judenverfolgung voraus und erklärte entschieden, dass »das Banner der Einheit der Menschheit gehisst werde«, »das Tabernakel des Weltfriedens … errichtet werde« und »diese Welt eine andere Welt werden« wird.
(Shoghi Effendi, 'Gott Geht Vorüber', Die Zeit ‘Abdu’l-Bahás)
»…ein halbes Jahrhundert, nachdem Bahá’u’lláh die Könige und Machthaber aufgerufen hatte, sich miteinander zu versöhnen und ihnen die Errichtung des Friedens auf Erden auferlegt hatte, wurden die Großmächte jener Epoche in einen Krieg gestürzt. Es war der erste Konflikt, der als „Weltkrieg“ betrachtet wurde, und er ist als eine Feuersbrunst von entsetzlicher Heftigkeit in Erinnerung geblieben; das beispiellose Ausmaß und die außerordentliche Grausamkeit des Blutvergießens hat sich dem Bewusstsein jeder nachfolgenden Generation eingebrannt. Und dennoch sind aus den Trümmern und dem Leid Möglichkeiten für eine neue Ordnung erblüht, die der Welt Stabilität verleihen sollte – insbesondere bei der Pariser Friedenskonferenz, die heute vor hundert Jahren eröffnet wurde. In den darauffolgenden Jahren konnte Shoghi Effendi, trotz der wiederholten Krisen, in die die internationalen Angelegenheiten gerieten, „den – wenn auch unausgewogenen – Fortschritt jener Kräfte, die im Einklang mit dem Zeitgeist arbeiten“, erkennen.«
»Diese Kräfte haben die Menschheit immer weiter auf ein Zeitalter des Friedens hin bewegt – nicht nur eines Friedens, der bewaffnete Konflikte ausschließt, sondern eines kollektiven Seinszustands, der Einheit manifestiert. Gleichwohl bleibt es noch ein langer Weg und die Entwicklung kommt nur schubweise voran. Wir halten diesen Moment für geeignet darüber nachzudenken, welche Fortschritte auf dieser Reise gemacht wurden, welches die gegenwärtigen Herausforderungen für den Frieden sind und welchen Beitrag die Bahá’í aufgerufen sind zu seiner Erreichung zu leisten.«
(Botschaften des Universalen Hauses der Gerechtigkeit, 18. Januar 2019)
In Greenwich Village lebten auch Mrs. Roosevelt und der russische Revolutionsführer Leo Trotzki sowie andere Freidenker mit politischen Neigungen, vor allem Anarchisten, die Regierungen als unterdrückerisch ansahen und die persönliche Freiheit betonten – und Kommunisten, die an eine klassenlose egalitäre Gesellschaft glaubten, in der die Regierung die Produktionsmittel kontrollierte, um soziale und wirtschaftliche Gleichheit zu gewährleisten. Diese politischen Ansichten waren als Reaktion auf die schrecklichen Bedingungen der Arbeiter in den Industriegesellschaften entstanden. Es gab auch viele Gewerkschafter, die sich für die Rechte der Arbeiter einsetzten. In seinen Vorträgen in den Vereinigten Staaten brachte ‘Abdu’l-Bahá eine umfassendere spirituelle Perspektive zu jedem dieser Themen ein, indem er unter anderem die Notwendigkeit eines göttlichen Erziehers, das Wesen wahrer Spiritualität, die Notwendigkeit sowohl sozialer Gerechtigkeit als auch sozialer Ordnung und die Bedeutung wahrer Gleichheit erläuterte.
Juliet Thompson entschied sich, in dieser kraftvollen Mischung aus neuen Ideen und wechselnden Kulturen zu leben, als sie in die W. 10th St. zog. Die Bewohner des Hauses tauschten häufig ihre Arbeiten untereinander aus. In diesem Teil der Stadt fanden regelmäßig von einem Mäzen gesponserte Zusammenkünfte von Künstlern, Schriftstellern und Denkern statt, bei denen aktuelle Themen aus den Bereichen Kunst, Spiritualität und Politik diskutiert wurden. Juliet war Malerin und Schriftstellerin und hatte ein ausgeprägtes spirituelles Empfinden. Sie besuchte zwar ab und zu die Himmelfahrtskirche, vertraute aber in Glaubensfragen auf ihre persönliche Erfahrung, die ihr half, auf die Botschaft der Bahai einzugehen.
Zu Juliets engsten Freunden gehörte ein bekannter Schriftsteller und Künstler und ein Mitstreiter auf der Suche: Khalil Gibran. Gibran wohnte gegenüber von Juliet in der 51 W. 10th St. Er war im Nordlibanon geboren worden, der damals zum Osmanischen Reich gehörte. Zur Familie seiner Mutter gehörte ein Bischof der syrischen Kirche. Da er zu arm war, um eine Schule zu besuchen, wurde er von den örtlichen Priestern in der Heiligen Schrift unterrichtet. Als junger Mensch träumte Gibran davon, Einheit und Verständigung zwischen den beiden großen Religionen zu schaffen, die sein Heimatland beherrschten, dem Islam und dem Christentum, und die sich wenige Jahre vor seiner Geburt in einem gewaltsamen Konflikt befanden. Seine Mutter verließ den Libanon und ging in die Vereinigten Staaten, nachdem sein Vater wegen Unterschlagung inhaftiert worden war. Um seine offensichtliche künstlerische Begabung im Zeichnen und Malen zu entwickeln, studierte er in Beirut, Boston und Paris bei Auguste Rodin. Sein ganzes Leben lang bewahrte er sich ein intensives Gefühl für die Gestalt Jesu Christi, die er in seinen Schriften auf andere Weise als in den traditionellen Kirchen neu darstellte. Wie viele Menschen dieser Zeit neigte Gibrans spiritueller Glaube zur Theosophie, und er war sich nicht sicher, ob eine göttliche Manifestation notwendig war und ob der Einzelne stattdessen sich selbst vervollkommnen und mit Gott in Kontakt kommen konnte. Juliet besuchte sein Atelier und lobte seine Arbeit, ebenso wie Marjorie Morten, eine Kunstmäzenin, die ebenfalls Bahá'í war. Gibran schloss eine so enge Freundschaft mit Juliet, dass er sie oft seine Entwürfe lesen ließ. Juliet machte Gibran mit dem Bahá'í-Glauben bekannt, indem sie ihm die Verborgenen Worte Bahá'u'lláhs auf Arabisch gab. Tief bewegt bezeichnete er sie als "großartige Literatur". Durch Juliet lernte Gibran auch ‘Abdu’l-Bahá kennen.
Die starke spirituelle Präsenz des Meisters hat sein Werk stark beeinflusst, insbesondere sein 1928 erschienenes Buch "Jesus Son of Man". Gibrans "Der Prophet", das er einige Jahre zuvor geschrieben hatte, sollte später Generationen von Menschen beeinflussen, die sich nach spiritueller Inspiration sehnten. Gibran verbrachte den Winter 1912 als Einsiedler; er war so sehr in seine Arbeit vertieft, dass er kaum aß und stattdessen starken türkischen Kaffee trank und rauchte. Doch als der Frühling 1912 anbrach, begann er, wieder am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Er begann, ‘Abdu’l-Bahá zu verehren. Als er erklärte, warum ‘Abdu’l-Bahá eine solche Inspiration für sein Buch über Jesus war, sagte er: "Zum ersten Mal sah ich eine Form, die edel genug war, um ein Gefäß für den Heiligen Geist zu sein." Am frühen Morgen des 19. April ließ sich ‘Abdu’l-Bahá von Gibran porträtieren. Sie hatten sich zuvor dreimal wegen des Porträts getroffen; Gibran hatte bei diesen Gelegenheiten auch als Dolmetscher fungiert. In der Nacht zuvor hatte er nicht schlafen können. Nachdem er eine Stunde lang gemalt hatte, riefen die fünfundzwanzig Anwesenden im Saal aus, dass er die Seele des Meisters in seinem Porträt eingefangen habe. ‘Abdu’l-Bahá sagte zu ihm auf Arabisch: "Diejenigen, die mit dem Geist arbeiten, arbeiten gut. Du hast die Kraft Allahs in dir und zitierst Mohammed, der sagte: 'Propheten und Dichtersehen mit dem Licht Gottes.'" Gibran berichtete, dass in ‘Abdu’l-Bahás Lächeln "das Geheimnis von Syrien und Arabien und Persien lag."
Quelle: The Spirit of the Age: Abdu’l-Baha, Khalil Gibran & Greenwich Village - Baha'i Blog (bahaiblog.net)
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