Der soziale Einfluss des gemeinsamen Betens

Vereinigung im Gebet

Heute möchte ich eine Art der Andacht und Anbetung beschreiben, welche ich mag und mit der ich vertraut bin. Vielleicht wollt ihr euch meine Gedanken dazu einmal anschauen.

Zum Beispiel: eine kleine Gruppe von Bahá'í und ihren Freunden versammelt sich an einem informellen Ort um zu beten, etwa bei jemandem zu Hause oder in einem Park. Die Form, welche sie bilden, ist nicht immer ein Kreis, aber es ist meistens eine Art Ring. Jeder sieht in Richtung des offenen Raumes zwischen ihnen und behält eine strahlende und ehrfürchtige Geisteshaltung. Die Teilnehmer werden abwechselnd Gebete ihrer Wahl lesen, rezitieren, singen. Niemand ist verantwortlich. Niemand führt die anderen in der Andacht an.

Wenn sich die Betenden in diesem Raum befinden, entsteht der Impuls zu beten aus den Herzen und kommt in freiwilligen Handlungen der Hingabe zum Ausdruck. Diese Andachtszeit kann einige Minuten oder sogar mehr als eine Stunde dauern. Aber die Dauer der Andacht bleibt der Diskretion und Inspiration der Anwesenden überlassen. Die Atmosphäre könnte energetisch und lebhaft oder ruhig und nach innen gerichtet sein - abhängig von der lokalen Kultur, der Art des Anlasses und den Eigenschaften der einzelnen Teilnehmer. Es gibt für Bahá'ís keinen offiziellen Weg als Gruppe zu beten. Und ich bin mir sicher, dass dies nicht der einzige Weg ist. Aber es ist eine Form der Andacht, an der ich teilgenommen habe, und das sind ein paar meiner Gedanken über den sozialen Einfluss dieser Versammlungen:

Ich denke, es ist nützlich zu verstehen, dass eine Versammlung zum Gebet ein gesellschaftlicher Anlass ist. Dies ist nicht nur deshalb so, weil die Teilnehmer vor und nach den Gebeten oft miteinander plaudern, Erfrischungen teilen, lachen, Geschichten oder Witze erzählen usw. Zusammen zu beten ist selbst eine Art der Geselligkeit. Zusätzlich zu der inneren Erfahrung jeder Person gibt es eine gemeinsame Begegnung der Gruppe mit dem Göttlichen. Sie vertieft und vergeistigt die Verbindungen, die jede Person mit der anderen erfährt. Gemeinsames Gebet geht tiefer, auch nachdem wir uns trennen, behält es seine Wirkung. Das Gruppengebet kann eine Methode für die spirituelle Transformation von Individuen und Gemeinden sein.

Wie kann also die oben beschriebene Form des Gottesdienstes unsere Beziehungen zu anderen Menschen verändern? Wie funktioniert es bei uns und macht uns zu neuen Individuen und neuen Gemeinschaften?

Kurz gesagt, ich denke, es hilft uns, auf Augenhöhe zu interagieren. Es ermutigt uns zu sagen, was in unseren Köpfen und Herzen ist und entzündet eine liebevolle Neugier darüber, was andere zu teilen haben. Es sammelt den Beitrag jedes einzelnen zu einer harmonischen Gruppenerfahrung. Es bestätigt den Wert jedes Einzelnen und die Kostbarkeit des Zusammenseins. Wenn wir beten und anderen zuhören, nehmen wir an einer gemeinsamen Suche nach dem Göttlichen teil, welche ein Ethos kollektiver Wahrheitssuche und einheitlicher Aktion fördert.

Das Universale Haus der Gerechtigkeit schrieb 1996 folgendes in Seiner Ridván-Botschaft an die Bahá’í der Welt:

»... das Aufblühen der Gemeinde erfordert vor allem auf örtlicher Ebene eine entscheidende Verbesserung der Verhaltensweisen: jener Verhaltensweisen, durch die der kollektive Ausdruck der Tugenden der einzelnen Mitglieder und die Funktionsweise der Geistigen Räte sich in der Einheit und Freundschaft innerhalb der Gemeinde und in der Dynamik ihrer Aktivitäten und ihres Wachstums zeigen. Das erfordert die Integration der sie bildenden Elemente - Erwachsene, Jugendliche, Kinder - in geistige, soziale, erzieherische und administrative Aktivitäten und ihre Beteiligung an örtlichen Lehr- und Entwicklungsplänen. Dazu gehören ein kollektiver Wille und die Ausrichtung auf das Ziel, den Geistigen Rat durch jährliche Wahlen fortbestehen zu lassen. Es schließt die Ausübung gemeinsamer Andachten ein. Daher ist es für das geistige Leben der Gemeinde wesentlich, dass die Freunde regelmäßige Andachtsversammlungen abhalten, in örtlichen Bahá’í-Zentren - dort, wo sie zur Verfügung stehen - oder anderswo, die Wohnungen der Freunde inbegriffen.«

Weiterhin schrieb das Universale Haus der Gerechtigkeit 1999 an die Bahá’í der Welt:

»Das durch individuelle Andacht erzeugte geistige Wachstum wird verstärkt durch das liebevolle Zusammensein der Freunde an jedem Ort, durch Andachten in der Gemeinde und durch Dienst am Glauben und für unsere Mitmenschen. Diese gemeinschaftlichen Aspekte des gottgefälligen Lebens beziehen sich auf das Gesetz des Mashriqu’l-Adhkar, das sich im Kitáb-i-Aqdas findet. Obgleich die Zeit für den Bau von örtlichen Mashriqu’l-Adhkar noch nicht gekommen ist, sind das Abhalten von regelmäßigen, allen offen stehenden Andachtsversammlungen und die Beteiligung der Bahá’í-Gemeinden an Projekten humanitären Dienstes Ausdruck dieses Teils des Bahá’í-Lebens und ein weiterer Schritt in der Erfüllung des Gesetzes Gottes.«

Um zu verstehen, was in diesen Momenten der Anbetung geschieht, hilft es, auch zu schauen, was folgt. Bei den Bahá'í beginnen Versammlungen zum Studium, zur Diskussion, zur Beratung oder zur Entscheidungsfindung gewöhnlich mit einer Andacht. Was ich wirklich interessant finde, ist, dass viele der Interaktionsmuster während der Andachtszeit in die nachfolgenden Hauptaktivitäten übergehen.

Stellen wir uns eine Gruppe von Menschen vor, die sich versammelt hat, um sich zu einem wichtigen Gemeinde-Thema zu beraten. Zu Beginn beten sie abwechselnd, hören aufmerksam auf die Worte, die andere im Gebet sprechen und sie empfinden das Geistige in diesen Gebeten. Danach gibt es während der Gruppendiskussion normalerweise keine Reihenfolge, in der die Leute sprechen. Sie sind alle gleichwertig. Wenn also eine Person fertig gesprochen hat, ist es jeder Person frei, zu dem Gesagten beizutragen. Wichtig ist, dass dieses Muster bereits während des geistigen Teils etabliert ist. Bevor sie überhaupt anfangen zu diskutieren, nimmt das Treffen bereits die Charakteristik einer Konversation an. Erstens ist es der Austausch und der Wechsel von Gebeten. Danach kommt es zum Austausch von Ideen und Erfahrungen.

Das gemeinsame Ethos zwischen Gebet und Gruppendiskussion zeigt sich auch in der physischen Organisation des Raumes. Die Teilnehmer/innen sitzen sich normalerweise gegenüber und versuchen, niemandem den Rücken zuzukehren, besonders wenn diese Person spricht. Dies steht im krassen Gegensatz dazu, passiv in Reihen zu sitzen oder zu stehen, in Richtung der Vorderseite des Raumes, wo ein Führer der Gruppe gegenübersteht und alles spricht. In dem Ansatz, den ich am meisten kenne, ist die Gruppe physisch auf sich selbst ausgerichtet. Jeder hat eine unmittelbare physische Verbindung mit dem offenen Raum, welcher die Gruppe vereint.

Dies sind einige wesentliche Aspekte ihrer Ähnlichkeit, aber natürlich gibt es auch eine spirituelle Dimension. Schließlich gehen Spiritualität und das Leben des Geistes Hand in Hand. Sehen Sie sich an, wie Abdu'l-Bahá in der Zusammenstellung 'Beratung' in nachfolgendem Zitat über die Beratung spricht:

»Die Frage der Beratung ist von äußerster Wichtigkeit … wenn sich ein Problem erhebt oder eine Schwierigkeit auftaucht, sollten sich die Weisen versammeln, beraten und eine Lösung ersinnen. Sie sollten dann dem einen, wahren Gott vertrauen und sich auf Seine Vorsehung verlassen, auf welchem Wege sie auch offenbar werden mag, denn göttliche Bestätigungen werden unzweifelhaft beistehen. Darum ist Beratung eine der ausdrücklichen Verordnungen des Herrn der Menschheit.«

Für Abdu'l-Bahá ist die Beratung nicht nur eine technische Form für Diskussion und Entscheidungsfindung. Es ist eine spirituelle Übung, um uns besser auf Gottes Führung einzustimmen. Mit anderen zu beten ist eine Methode, unseren Verstand und unsere Herzen in eine Ebene zu bringen, in welcher das sich ergeben kann.

Das Gruppengebet ist eine Möglichkeit, unsere spirituellen „Muskeln“ vor einer großen Anstrengung zu dehnen. Sie bekräftigt die Würdigkeit jeder Person gleichberechtigt teilzunehmen und bestätigt den spirituellen Charakter unserer Beziehungen zueinander. Indem wir unsere Herzen zu Gott wenden, werden die persönlichen Qualitäten der Freude, des Mitgefühls, der Wahrhaftigkeit und Großzügigkeit erfrischt, die in unseren sozialen Interaktionen benötigt werden. Denn mit göttlicher Hilfe und ein wenig Hilfe von unseren Freunden kann das, was in der Gesellschaft geschieht, ein Spiegelbild dessen werden, was im tiefen Gebet geschieht.

Das Universale Haus der Gerechtigkeit schrieb 2010 folgendes in Seiner Ridván-Botschaft an die Bahá’í der Welt:

»Als Antwort auf die tiefe innere Sehnsucht eines jeden Herzens nach Zwiesprache mit seinem Schöpfer, halten sie an unterschiedlichen Schauplätzen gemeinsame Andachten ab, vereinen sich mit anderen im Gebet, wecken geistige Empfänglichkeit und entwickeln einen von andächtiger Hinwendung zu Gott geprägten Lebensstil.«

»So wird das Gemeindeleben in jedem Cluster allmählich zu einem vielfarbigen Wandteppich, wenn gemeinsame Andachten, ergänzt durch Gespräche in der persönlichen Umgebung des Heims, verwoben werden mit Aktivitäten, die allen Mitgliedern der Bevölkerung – Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern – geistige Bildung vermitteln.«

Mit einem Absatz der Ridván-Botschaft von 2014 des Universalen Hauses der Gerechtigkeit möchte ich enden:

»… lernen die Menschen, die sich der Person Bahá’u’lláhs zunehmend bewusst werden, durch ihre Reflexion über Erfahrungen, durch Beratung und Studium, gemäß der Wahrheiten zu handeln, die Seine Offenbarung enthält, so dass der sich ständig erweiternde Kreis geistig Verwandter durch die Bande gemeinsamer Andacht und gemeinsamen Dienstes immer enger verbunden wird.«

 

@ Neue Blog Artikel via E-Mail abonnieren

Geben Sie Ihre E-Mail-Adresse an, um Benachrichtigungen über neue Beiträge via E-Mail zu erhalten.

Kommentare

Keine Kommentare

Kommentar schreiben

* Diese Felder sind erforderlich