Wenn Gott all liebend und barmherzig ist, warum lässt Er dann so viel Schmerz und Leid in der Welt zu und bringt uns in so große Schwierigkeiten?
Viele haben das unsagbare Glück, dass sie nie unter extremer Armut gelitten haben, dass vielleicht bei uns nie eine schwächende oder lebensbedrohliche Krankheit diagnostiziert wurde, dass wir nie den plötzlichen Verlust eines Familienmitglieds erlitten haben und dass wir nie eine andere Art von schwerem Unglück erlebt haben, was leider in der Welt so viele Menschen erleiden. Wenn solches Leid auftritt, werden sich viele von uns unweigerlich die uralte Frage stellen, warum ein gütiger Gott es vorgesehen hat, dass das Leben von uns Menschen mit solchen Schwierigkeiten behaftet ist.
Siehe auch Bahá'í-Gedanken zur Theodizee-Frage.
Um es gleich vorwegzunehmen: Wir wissen es nicht. Und wir können bezweifeln, dass irgendjemand sonst mit absoluter Sicherheit sagen kann, warum eine bestimmte Prüfung oder Bedrängnis eine bestimmte Person heimgesucht hat. Wenn wir glauben, dass Gott tatsächlich ein allwissendes, allmächtiges und allgegenwärtiges Wesen ist, müssen wir wohl auch die Tatsache akzeptieren, dass wir als Geschöpfe auf einer grundsätzlich niedrigeren Stufe Gottes Willen nie ganz verstehen werden. Wie Bahá'u'lláh sagt:
»Würdest du in deinem Herzen von nun an bis zum Ende, das kein Ende hat, mit dem gesammelten Begriffsvermögen und Verständnis, das die größten Geister in der Vergangenheit erreicht haben oder in der Zukunft erreichen werden, über diese gottgefügte, tiefgründige Wirklichkeit, dieses Zeichen der Offenbarung des allewigen, allherrlichen Gottes nachdenken, du würdest dennoch weder sein Geheimnis verstehen noch seinen Wert ermessen können.«
(Bahá’u’lláh, 'Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláhs')
Aber obwohl wir Gottes Willen niemals vollständig begreifen können, sagt uns Bahá'u'lláh auch, dass einer der grundlegenden Zwecke unseres Lebens auf diesem Planeten darin besteht, unser Verständnis von Gottes Willen zu erweitern. Die erste Zeile des kurzen Pflichtgebets von Bahá'u'lláh macht diesen Punkt ganz deutlich:
»Ich bezeuge, o mein Gott, dass Du mich erschaffen hast, Dich zu erkennen und Dich anzubeten.«
(Bahá’u’lláh, 'Bahá’í-Gebete')
Wie können wir also unsere Aufgabe erfüllen und danach streben, Gottes Willen besser zu verstehen, wenn Er im Grunde genommen nicht zu erkennen ist? Obwohl dies paradox erscheint, stellt Bahá'u'lláh an anderer Stelle klar, dass Gott in seinem Wesen zwar grundsätzlich unerkennbar ist, wir aber dennoch in der Lage sind, Aspekte von Gottes Willen auf verschiedene Weise zu verstehen. Eine davon, und aus der Sicht der Bahá'í die wichtigste, besteht darin, den vorerst letzten Gesandten Gottes zu erkennen und uns mit Seinen Lehren vertraut zu machen. Es ist der Gesandte Gottes, dessen Aufgabe es ist, den Willen Gottes der Menschheit bekannt zu machen und uns dem Göttlichen näher zu bringen. Eine andere Möglichkeit ist das Gebet und die Meditation, eine Praxis, die in allen religiösen Traditionen einen zentralen Platz einnimmt. Aber ein weniger offensichtlicher Weg ist vielleicht das Studium von etwas, das im traditionellen Sinne überhaupt nicht "religiös" ist: die Natur.
Bahá'u'lláh sagt uns an mehreren Stellen, dass wir, wenn wir uns mit den Eigenschaften und Merkmalen der Natur vertraut machen, auch die Aspekte des Willens Gottes besser erkennen können. Die folgende Auswahl ist ein Beispiel für diese Lehre:
»Sprich: Die Natur ist in ihrem Wesen die Verkörperung Meines Namens, der Gestalter, der Schöpfer. Ihre Offenbarungen sind verschiedenartig durch verschiedene Ursachen, und in dieser Verschiedenartigkeit sind Zeichen für urteilsfähige Menschen. Die Natur ist Gottes Wille, dessen Ausdruck in der bedingten Welt und durch diese. Sie ist Teil des Waltens der Vorsehung, verordnet von dem Verordner, dem Allweisen. Wollte jemand erklären, sie sei Gottes Wille, wie er sich in der Welt des Seins offenbart, so könnte keiner diese Behauptung anzweifeln.«
(Bahá’u’lláh, 'Botschaften aus ‘Akká')
Da die Natur die Manifestation des Göttlichen in der materiellen Welt ist, sind die spirituellen Geheimnisse, die durch tiefe und gezielte Betrachtung der Natur offenbart werden können, sicherlich weitreichend. Aus diesem Grund verwendeten Bahá'u'lláh und viele frühere Gesandte Gottes häufig natürliche Symbole, um den Menschen zu helfen, bestimmte geistige Konzepte zu verstehen. So wird Gott oft mit der Sonne verglichen, der Aufstieg und Fall der Religionen mit dem Zyklus der Jahreszeiten. Bahá'u'lláh sagt uns, Seine Offenbarung sei wie ein grenzenloser Ozean, die Vielfalt der Menschheit wird mit einem schönen und bunten Garten verglichen; dies ist nur eine kleine Auswahl der natürlichen Metaphern, die im Bahá'í-Glauben verwendet werden, um spirituelle Wahrheiten zu erhellen. Indem wir die Merkmale und Eigenschaften dieser Aspekte der materiellen Welt studieren, können wir spirituelle Phänomene besser verstehen lernen.
Und während die obige Passage besagt, dass die gesamte Natur eine Manifestation von Gottes Willen ist, verwendet Bahá'u'lláh wiederholt die spezifische Metapher des Windes oder dessen Auswirkungen, um den Willen Gottes zu charakterisieren. Ein bezeichnendes Beispiel dafür ist Seine Beschreibung, wie Er zum ersten Mal erkannte, dass Er tatsächlich eine Manifestation Gottes war. Er sagte:
»O König! Ich war nur ein Mensch wie andere und lag schlafend auf Meinem Lager. Siehe, da wehten die Lüfte des Allherrlichen über Mich hin und lehrten Mich die Erkenntnis all dessen, was war. Dies ist nicht von Mir, sondern von Einem, der allmächtig und allwissend ist.«
(Bahá’u’lláh, 'Brief an den Sohn des Wolfes')
‘Abdu’l-Bahá' verwendete in ähnlicher Weise die Rede von der Natur, um den Einfluss Gottes auf die Menschheit zu beschreiben:
»Es ist früh am Morgen, die belebenden Winde des Paradieses Abhá wehen über die ganze Schöpfung. Aber sie können nur jene bewegen, die reinen Herzens sind; nur der reine Sinn kann ihren Duft wahrnehmen. Nur das erkennende Auge erblickt die Sonnenstrahlen; nur das hörende Ohr kann dem Gesang der himmlischen Heerscharen lauschen. Zwar ergießt sich ergiebiger Frühlingsregen, der Segen des Himmels, auf alle Dinge; doch nur gute Erde kann er fruchtbar machen; den versalzenen Boden, auf dem alle Freigebigkeit keine Wirkung hervorbringen kann, den liebt er nicht.«
(‘Abdu’l-Bahá, 'Briefe und Botschaften')
Warum verwendeten Bahá'u'lláh und ‘Abdu’l-Bahá' den Wind als Analogie für den Willen Gottes? Was haben diese beiden Phänomene gemeinsam?
Kann es sein, dass der Wind aus einer Reihe von Gründen eine treffende Metapher für Gottes Willen ist? - Erstens ist der Wind unsichtbar, aber die Auswirkungen des Windes auf andere Aspekte dieser Welt sind klar und offensichtlich. Gottes Wille funktioniert wohl genauso; wir haben vielleicht nicht die geistigen Fähigkeiten, Gottes Willen direkt zu beobachten, aber wenn wir unsere Augen dafür öffnen, wie Gottes Wille durch unser Leben fließt, können wir die Auswirkungen seines Willens auf verschiedene Weise erkennen.
Zweitens ist der Wind allgegenwärtig, aber er ist zu verschiedenen Zeiten mehr oder weniger offensichtlich. Auch hier wirkt wohl Gottes Wille in ähnlicher Weise. Manchmal spüren wir, dass sein Wille uns völlig umgibt, ein andermal ist sein Wille in unserem Leben kaum wahrnehmbar. Aber auf diese oder jene Weise, Gottes Wille beeinflusst uns und unser Umfeld immer, ob direkt oder indirekt, und wir müssen uns dieser Wahrheit immer sicher sein.
Schließlich, und das steht in direktem Zusammenhang mit der Einleitung dieses Beitrags, ist der Wind eine treffende Metapher für den Willen Gottes, weil seine Auswirkungen in dieser Welt sowohl nützlich als auch scheinbar zerstörerisch sein können. Wind ist wirklich ein erstaunliches Phänomen; wenn er richtig kanalisiert wird, kann er eine Quelle reichhaltiger und nachhaltiger Energie sein, aber extreme Winde können eine Spur der Zerstörung und Verwüstung hinterlassen. Der Wille Gottes ist dem auffallend ähnlich. Wenn wir den Willen Gottes effektiv kanalisieren und nutzen, können wir erstaunliche geistliche Energien in unserem Leben freisetzen, aber manchmal kann der Wille Gottes uns auch Schwierigkeiten bringen, die ziemlich verheerend sind.
Diese Schwierigkeiten veranlassen die Menschen oft dazu, Gottes Willen infrage zu stellen oder daran zu zweifeln, dass Er überhaupt existiert. Doch der Glaube ist sich darüber im Klaren, dass Gottes Wille auch in solchen Schwierigkeiten spürbar ist. In der Bahá'í-Sprache sprechen Bahá'u'lláh und ‘Abdu’l-Bahá' häufig von den "Winden der Prüfungen", um diese Schwierigkeiten zu beschreiben. Es gibt unzählige Beispiele für diese Sprache in ihren Schriften, aber lassen wir einige Passagen auf uns wirken:
»Verherrlicht bist Du, o Herr mein Gott! Jeder Einsichtige bekennt Deine unumschränkte Gewalt und Deine Herrschaft, und jedes scharfsichtige Auge erkennt die Größe Deiner Majestät und die bezwingende Kraft Deiner Macht. Die Winde der Prüfungen können niemanden, der sich Deiner Nähe erfreut, daran hindern, sein Angesicht dem Horizont Deiner Herrlichkeit zuzuwenden, und die Stürme der Heimsuchung vermögen die Deinem Willen völlig Ergebenen nicht davon abzuhalten, sich Deinem Hofe zu nähern.«
(Bahá’u’lláh, 'Gebete und Meditationen')
»Gelobt sei Dein Name, o mein Gott! Du siehst, wie der Sturm der Prüfungen die im Glauben Standhaften erzittern lässt, wie der Versuchung Hauch jene aufrührt, deren Herzen festen Grund gefunden hatten, außer denen, die aus den Händen der Manifestation Deines Namens, der Allerbarmer, des Weines teilhaftig werden, der in Wahrheit Leben ist. Sie kann kein anderes Wort bewegen als Dein höchst erhabenes Wort, sie kann nichts entzücken als der süße Duft vom Gewande Deines Gedenkens, o Du Besitzer aller Namen, Du Schöpfer von Himmel und Erde!«
(Bahá’u’lláh, 'Gebete und Meditationen')
Es ist wichtig zu beachten, dass diese "Winde" nicht als Manifestationen von Gottes Rache, Bosheit oder gar Gerechtigkeit beschrieben werden. Vielmehr sind sie "Prüfungen", die es uns ermöglichen, festzustellen, wie stark wir wirklich sind, Schwächen in unserem Charakter zu erkennen und uns auf Bereiche unseres Lebens zu konzentrieren, in denen wir geistlich wachsen müssen. Angesichts dessen ermahnen uns viele der oben genannten Abschnitte, angesichts von Prüfungen stark und zuversichtlich zu sein.
So wie sich die Stärke von Gebäuden zeigt, wenn sie von starken Winden angegriffen werden, so zeigt sich unser Adel darin, wie wir auf die Winde der Prüfungen reagieren. Wir möchten mit den Worten Bahá’u’lláh’s und ‘Abdu’l-Bahás zu diesem Konzept schließen:
»Man kann glücklich sein in den Verhältnissen des Wohllebens, der Behaglichkeit, des Erfolges, der Gesundheit, des Vergnügens und der Freude; wenn aber jemand glücklich und zufrieden sein kann in unruhigen und harten Zeiten und in Krankheitstagen, so ist dies der Beweis von Seelenadel.«
(‘Abdu’l-Bahá, 'Baha’i World Faith')
»Ist der Sucher zu dieser Stufe gelangt, so wird er die Stadt der Liebe und Verzückung betreten. Hier wehen die Winde der Liebe und die Brisen des Geistes.«
(Bahá’u’lláh, 'Edelsteine göttlicher Geheimnisse')
»Die Kerze deines Herzens ist durch die Hand Meiner Macht entzündet. Lösche sie nicht durch die widrigen Winde der Selbstsucht und der Leidenschaft. Meiner zu gedenken, ist dein Heil in allen Gebrechen; vergiss dies nicht. Mache Meine Liebe zu deinem Schatz und hege sie wie dein Augenlicht und dein Leben.«
(Bahá’u’lláh, 'Verborgene Worte')
»Verherrlicht bist Du, o Herr mein Gott! Ich flehe Dich an bei den heranbrausenden Winden Deiner Gnade und bei ihnen, den Sonnen Deines Ratschlusses, den Aufgangsorten Deiner Eingebung, sende hernieder auf mich und auf alle, die Dein Angesicht suchen, was Deiner Großmut und Deiner freigebigen Gnade entspricht und was Deiner Gaben und Deiner Gunst würdig ist. Arm und verlassen bin ich, o mein Herr! Lass mich versinken im Meer Deines Reichtums; durstig bin ich, lass mich trinken vom Lebenswasser Deiner Gnade.«
(Bahá’u’lláh, 'Gebete und Meditationen')
»Wie süß ist der Gedanke an Dich in Zeiten der Not und der Prüfung! Wie köstlich ist es, Dich zu lobpreisen, wenn die wilden Stürme Deines Ratschlusses toben!«
(Bahá’u’lláh, 'Gebete und Meditationen')
»Ich lobpreise Dich, o mein Gott, dass der Duft Deiner Gnade mich entzückt und die sanften Winde Deiner Barmherzigkeit mich zu Deinem Gabenstrome führen.«
(Bahá’u’lláh, 'Gebete und Meditationen')
»Seit dem Tage, da Du mich nach Deinem Befehl erschufest, o mein Gott, und mich durch die sanften Winde Deines zarten Erbarmens erwecktest, weigere ich mich, einem anderen als Dir mich zuzuwenden.«
(Bahá’u’lláh, 'Gebete und Meditationen')
»Die Winde der wahren Frühlingszeit wehen über euch dahin. Schmücket euch mit Blüten, so wie die Bäume im duftenden Garten! Die Frühlingswolken ergießen sich. Werdet frisch und grünend wie die süßen Gefilde der Ewigkeit!«
(‘Abdu’l-Bahá, 'Das Geheimnis göttlicher Kultur')
»O Dienerin Gottes, die du dich wie ein frischer, zarter Zweig im Windhauch der Liebe Gottes bewegst!«
(‘Abdu’l-Bahá, 'Briefe und Botschaften')
»Wisse, dass alle Mächte vereint nicht die Kraft haben, den Weltfrieden zu errichten oder zu allen Zeiten der überwältigenden Vorherrschaft dieser endlosen Kriege standzuhalten. Bald jedoch wird die Macht des Himmels, die Vorherrschaft des Heiligen Geistes, auf den hohen Gipfeln die Fahnen der Liebe und des Friedens hissen; hoch über den Burgen der Majestät und Macht werden diese Fahnen wehen in den rauschenden Winden, die Gottes liebender Gnade entströmen.«
(‘Abdu’l-Bahá, 'Briefe und Botschaften')
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